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Gastkommentar: Die Grenzen der Gendiagnostik

Das neue Gesetz der großen Koalition ist ein Schildbürgerstreich, meint Alexander S. Kerulé. Der Ansatz ist richtig: Schutz vor Missbrauch genetischer Informationen. Doch die ethischen Fragen werden nicht geklärt.

Die Bürger von Schilda versenkten einst ihre Kirchenglocke im See, um sie vor dem Feind zu schützen. Um das wertvolle Stück später wieder zu finden, markierten die pfiffigen Kleinstädter die Stelle mit einer Kerbe im Bootsrand …

Am heutigen Mittwoch wird der Bundestag die Stelle im Paragrafenmeer markieren, die erlaubte Gentests von verbotenen trennt. Wer etwa künftig einen heimlichen Vaterschaftstest machen lässt, zahlt bis zu 5000 Euro Geldbuße. Bei anderen Verstößen sieht das „Gendiagnostikgesetz“ bis zu 300 000 Euro Strafe vor.

Die ursprüngliche Absicht des Gesetzes, über dessen Grundlagen seit mehr als zehn Jahren diskutiert wird, ist richtig und wichtig: Der Bürger soll vor dem Missbrauch seiner genetischen Information geschützt werden. So sollen Versicherer niemanden benachteiligen dürfen, weil er „schlechte“ Anlagen hat, etwa für Bluthochdruck oder Krebs. Arbeitgeber dürfen Angestellte und Bewerber nicht genetisch durchleuchten, um ihre Leistungsfähigkeit zu beurteilen. Hinter diesen Forderungen stehen letztlich die Menschenrechte auf Selbstbestimmung und Gleichbehandlung. Spätestens seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahre 2003 war klar, dass die genetische Information vor unbefugtem Zugriff geschützt werden muss, genauso wie die Krankenakte, die Post und die Wohnung.

Doch das Gesetz greift zusätzlich in umstrittene ethische Fragen ein, ohne sie wirklich zu regeln. So sollen genetische Untersuchungen vor der Geburt nur dann erlaubt sein, wenn sie die Gesundheit des Kindes „beeinträchtigen“. Prinzipiell könnte jedoch jedes der rund 25 000 menschlichen Gene die Gesundheit beeinträchtigen. Die Verbotsgrenze treibt deshalb auf dem Strom des wissenschaftlichen Fortschritts, wie das Boot der Schildbürger auf dem See.

Es geht aber auch noch verwirrender: In der neuesten Gesetzesfassung sollen vorgeburtliche Untersuchungen verboten sein, wenn die zugehörige Krankheit erst im Erwachsenenalter ausbricht. Dazu gehören die gefürchtete Chorea Huntington und andere, mit schwerster Behinderung und Tod endende Nerven- oder Stoffwechselkrankheiten. Ob ihr Kind sie bekommen wird, dürfen Eltern nach dem Gesetzentwurf sofort nach der Geburt feststellen lassen, vorher jedoch nicht.

Ganz nebenbei hat Justizministerin Zypries ihre umstrittene Forderung wahr gemacht, Vaterschaftstests, für die keine Zustimmung der Mutter vorliegt, unter Strafe zu stellen, statt es bei der bisherigen straflosen Rechtswidrigkeit zu belassen. Dabei ist unbestritten, dass die heimlichen Vaterschaftstests meistens dem Kind und dem Familienklima nutzen, weil in 80 Prozent der Fälle der Zweifler tatsächlich der echte Vater ist. Nun müssen die Familiengerichte die Tests anordnen, mit oft verheerenden Folgen für Kinder und Eltern.

Während der Gesetzgeber gegenüber besorgten Schwangeren und zweifelnden Vätern Strenge walten lässt, bekamen Versicherer und Behörden individuell zugeschnittene Schlupflöcher: So dürfen Versicherer Gentests verlangen, wenn die Leistung 300 000 Euro übersteigt. Asylbewerber müssen unter Umständen Gentests vorlegen, wenn sie einen Verwandten nachholen wollen.

Weil „Gendiagnostik“ nur eine Methode und keine moralische Messlatte ist, hat das Gesetz merkwürdige Konsequenzen. So sind klassische „phänotypische“ Abstammungstests, etwa durch Blutgruppenuntersuchungen, davon überhaupt nicht betroffen. Auch nichtgenetische Gesundheitsdaten werden nicht geschützt, obwohl diese (jedenfalls bis heute) viel mehr aussagen als verfügbare Gentests. Das betrifft vor allem Labortests, aber auch triviale Untersuchungen: Beispielsweise bedeuten zehn Zentimeter mehr Bauchumfang ein bis zu 25 Prozent höheres Lebensrisiko für Herzkrankheiten.

Die Grenze zwischen Gendiagnostik und „normaler“ Diagnostik ist ohnehin im Wandel. In naher Zukunft werden bei fast jedem Arztbesuch Tests durchgeführt werden, die Rückschlüsse auf genetische Informationen erlauben. Dann wird der Bundestag sich das Gesetz noch einmal vornehmen müssen. Wie das geht, haben die Bürger von Schilda bereits vorgemacht: Als sie ihre Glocke nicht wiederfanden, wollten sie die Kerbe herausschneiden – und machten sie damit noch größer.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle.

Alexander S. Kekulé

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