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Irrtümer 2011: "Die Guttenberg-Affäre ist gar keine Affäre"
Mit diesem Satz irrte unser Autor Harald Martenstein 2011. Er war nicht der Einzige - in diesem Jahr kam vieles anders als gedacht. Dennoch gilt für ihn weiterhin: Ohne Irrtum keine Wahrheit. Ein Essay.
Stand:
Der größte Irrtum der Geschichte? Das ist Ansichtssache, für mich gehört eine Expertise der Petersburger Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1806 zu den heißen Kandidaten: „Erdöl kann in keiner Weise verwendet werden.“ Auch die Begründung, mit der die Musikfirma Decca 1962 den Beatles einen Plattenvertrag verweigerte, wäre ein Kandidat für die Top 10: „Gitarrenmusik ist nicht gefragt.“
Das Auffällige an Irrtümern ist die große Selbstgewissheit, mit der sie oft verkündet werden. Wer sich den Luxus leistet, hin und wieder an sich selbst und seinen Ansichten zu zweifeln, leistet aktive Irrtumsvorsorge. Kluge Menschen sind vor Irrtümern nicht gefeit, nicht einmal vor bizarren Irrtümern. Der Philosoph Aristoteles gehört – oder irre ich mich da? – zu den produktivsten Irrtumsherstellern der Geschichte. Aristoteles sagte das Folgende: „Männer besitzen mehr Zähne als Frauen.“ Und: „Fliegen haben vier Beine.“ Und: „Nur der Mensch besitzt Fleisch an den Beinen.“
In den vergangenen Jahren waren Bücher wie das „Lexikon der populären Irrtümer“ erfolgreich. Daraus haben wir gelernt, dass Spinat nicht sonderlich viel Eisen enthält, dass der Mensch keineswegs zwei Liter Wasser am Tag braucht und dass Lesen bei schlechtem Licht nicht etwa den Augen schadet, es macht nur müde. Wenn ich aber die Macht hätte, einen Irrtum in Wahrheit zu verwandeln, dann würde ich den leider irrigen Satz nehmen: „Qualität setzt sich immer durch.“
Wer sich intensiver mit Irrtümern befasst, der fragt sich automatisch nach einer Weile, welche Wahrheit überhaupt tatsächlich wahr ist. Die Welt, aus der Nähe betrachtet, besteht zu 99 Prozent aus Irrtum, so, wie der menschliche Körper zu 99 Prozent aus Wasser… nein, pardon, das ist ja auch so ein Irrtum. In Wahrheit besteht unser Körper nur zu etwa 63 Prozent aus Wasser, so wurde es jedenfalls bei Redaktionsschluss dieses Textes von der Wissenschaft angenommen.
Grundlage sehr vieler Irrtümer, so behaupte ich, ist Phantasielosigkeit. Der Irrende kann sich die Welt nur so vorstellen, wie sie ihm jetzt gerade erscheint. Er extrapoliert die Gegenwart in die Zukunft. Das gilt für die Petersburger Akademie, die aus der Tatsache, dass man im Jahre 1806 mit Erdöl nichts anzufangen wusste, eine Verallgemeinerung ableitete. Es gilt für die Decca, die nicht begriff, dass der Geschmack des Publikums sich jederzeit ändern kann, vor allem, wenn Talente wie John Lennon und Paul McCartney auftauchen.
Eine Partei, die bei den Wählern sehr gut dasteht, kann sich, ähnlich wie die Decca, nur schwer vorstellen, dass es schon morgen anders sein könnte. Die FDP und die Berliner Grünen haben es erlebt. Vor allem Verliebte, wie Demi Moore und Ashton Kutcher, besitzen fast nie die Phantasie, sich eine Welt vorzustellen, in der ihre Liebe nicht mehr vorkommt.
Zukunftsprognosen sind deshalb so oft falsch, weil sie auf genau diesem Prinzip beruhen, die Gegenwart wird in die Zukunft fortgeschrieben. Anders geht es ja auch nicht, denn die neuen Einflüsse, die jederzeit auftauchen können, sind naturgemäß vor ihrem Auftauchen unbekannt. Falls sich im kommenden Jahrzehnt die Sonnenaktivität verändert, fällt die Klimaerwärmung womöglich aus, und wir kriegen statt dessen tausend Jahre Eiszeit.
Nach den Terroranschlägen von Oslo wurde zunächst, in den ersten Meldungen, ein islamistischer Tathintergrund vermutet. Dieser Irrtum hing nicht in erster Linie mit anti-islamischen Vorurteilen zusammen, er war eine Extrapolation. Es hatte nun einmal in den Vorjahren, in Madrid zum Beispiel und in London, ähnliche Anschläge gegeben, die Al Qaida zugeordnet werden.
Sollte es – eine Horrorvorstellung – in den kommenden Jahren häufiger rechtsradikal motivierte Morde geben, dann wird man bei einem bestimmten Tatmuster eben immer als erstes einen rechtsradikalen Hintergrund annehmen.
Wissen schützt vor Irrtümern überhaupt nicht
Wenn es heute mehr Irrtümer gibt als früher, dann aus zwei Gründen. Erstens gibt es viel mehr Meinungen und Prognosen, dank des Internets ist die ganze Welt von einem unaufhörlichen Meinungsgesumm erfüllt. Zweitens ist alles schneller geworden. Schon wenige Minuten nach einem Großereignis setzen sich die Journalisten, die Blogger und die Twitterer an ihre Maschinen und beginnen damit, dieses Ereignis zu bewerten oder einzuordnen. Ihr Publikum erwartet es von ihnen. Das Risiko des Irrtums wächst, wenn die Zeit zum Nachdenken knapp ist.
Zeit ist ein Faktor, aber leider schützt auch ein üppiges Zeitkonto nicht vor Irrtümern. Aristoteles hätte vermutlich alle Zeit der Welt gehabt, um die Beine der um ihn herumschwirrenden Fliegen zu zählen. Sorgfalt verringert die Irrtumsquote, Sorgfalt lässt den Irrenden aber auch leider mit viel größerer Hartnäckigkeit an seinen Irrtümern festhalten.
Je sicherer wir unserer Kompetenz sind, je mehr Bücher wir zu einem Thema gelesen und je mehr Lebenszeit wir zur Durchdringung dieses Themas aufgewandt haben, desto schwerer fällt es uns, einen Irrtum einzugestehen. Als der Chemiker und spätere Nobelpreisträger Daniel Shechtman von seinen Kollegen wegen seiner Entdeckungen als Spinner verstoßen wurde, da waren seine Widersacher ja nicht ahnungslose Dilettanten, sondern erfahrene Wissenschaftler, Leute, die ähnlich kompetent waren wie Shechtman selbst.
Wissen schützt vor Irrtümern überhaupt nicht. Das, was die Leute vor 50 Jahren für „gesichertes Wissen“ hielten, gilt heute zu großen Teilen als überholt. Oft behalten gerade die Außenseiter recht, die ihren Instinkten stärker vertrauen als dem so genannten Wissen ihrer Epoche. Das beste Beispiel ist Kolumbus. Er hielt es für möglich, die Welt zu umsegeln. Dieser Plan wurde mehrfach von Expertenkommissionen als undurchführbar abgelehnt. Kolumbus selbst irrte bekanntlich auch, den Kontinent, den er schließlich erreichte, hielt er zunächst für Indien. Alle, wirklich alle irrten sich, aber dabei kam eine der wichtigsten Entdeckungen der Neuzeit heraus.
Irrtümer sind unvermeidlich – und gleichzeitig ein großer Segen. Ohne Irrtümer könnte es in der Wissenschaft keinen Fortschritt geben. Man probiert etwas aus, eine Hypothese, und lernt aus dem Irrtum. Wenn niemand den Mut zum Irrtum hätte, wenn alle sich immer auf vermeintlich sicherem Gelände bewegten, gäbe es keine Erfindungen, keine neue Kunst, keine neuen Fernsehformate und kein einziges Paar würde jemals zusammenfinden.
Ohne Irrtum keine Wahrheit, ganz einfach. Auch ein Jahresrückblick stellt natürlich in gewisser Weise immer einen Irrtum dar. Mag sein, dass 2011 ein an Irrtümern besonders reiches Jahr gewesen ist. Doch ich habe die Befürchtung, dass man in fast jedem Jahr der Geschichte eine Menge Irrtümer aufspüren kann. Der Irrtum ist eben ein ständiger Begleiter des Menschen, seit es ihn gibt, wie der Hund, wie die Religion, wie das Verbrechen. Tiere und Pflanzen können sich nicht irren, weil sie sich keine individuellen Meinungen gönnen.
Jeder kann die weltverändernde Kraft des Irrtums an sich selbst überprüfen. Vor Jahren dachte ich zum Beispiel, dass ich mal weg muss aus Berlin, ich zog nach München. Das ist eine schöne Stadt, aber für mich völlig ungeeignet. Erst der Irrtum, nach München zu ziehen, machte mir klar, dass ich aus Berlin nicht weg will.
Und als Autor irrt man sowieso ständig. Autoren, die das nicht zugeben, tun mir leid. Fehler sind etwas anderes – ich schrieb zum Beispiel einen Nachruf auf Loriot und beschrieb, aus der Erinnerung, einen seiner Sketche falsch, das war ein Fehler.
Mein größter Irrtum des Jahres 2011 bestand darin, dass ich in einer Kolumne den Herrn Guttenberg verteidigt habe, immerhin, zum Glück, noch eher am Anfang seiner Promotions-Affäre. Ich dachte, Politiker müssen keine Moralriesen sein, sie dürfen ruhig Nachtseiten haben, ich will nicht von lauter Tugendbolden regiert werden. Hauptsache, sie üben ihre Ämter gut aus.
Das Argument gefällt mir immer noch ganz gut, trotzdem, ich will auch nicht von Guttenbergs regiert werden, es war ein Irrtum. Über die größten Irrtümer meines Lebens aber schweige ich, wie die meisten.
Noch mehr Irrtümer 2011 lesen Sie im Jahresrückblick im gedruckten Tagesspiegel am 31.12. oder am 30.12. ab 19 Uhr in der Tagesspiegel-App.
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