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Kolumne Mon BERLIN: Die Moralapostel und ihr Bundespräsident

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Politiker hierzulande jemals so gnadenlos exekutiert worden wäre wie Christian Wulff. Das wirft kein gutes Licht auf Deutschland.

Die Tulpen. Das ist doch ein hübsches Thema für die heutige Glosse. Das Quietschen ihrer saftigen Stängel, wenn man sie in eine Vase stellt, die Kraft ihrer ovalen kleinen Köpfe, wenn sie sich dem Himmel entgegenstrecken. Ja, die Tulpen … das wäre ein eleganter Umweg um diese Obsession herum, die die Deutschen seit Monaten quält: Christian Wulff. Auf die Gefahr hin, gelyncht zu werden: Lassen wir die Grazie der Tulpen für einen Moment beiseite, um – zum letzten Mal!!! – auf diese unglaubliche Affäre zurückzukommen.

Merken die Deutschen in ihrem Wahn eigentlich, dass diese Geschichte niemanden interessiert? Nur sie selbst. Trotz meiner allwöchentlichen Seufzer am Telefon hat meine Pariser Redaktion seit dem Beginn der Geschichte nur einen einzigen Text von 1500 Anschlägen bestellt. Das ist kaum mehr als eine Notiz, die sich zwischen den umfangreichen Texten über Syrien und über die Präsidentschaftswahlen in Frankreich verliert (schließlich sind wir ethnozentrisch)! „Was ist denn jetzt schon wieder mit diesem Sturm im Bierglas? Vergiss es!“, beschwören meine Pariser Kollegen mich jeden Montagmorgen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Politiker hierzulande jemals so gnadenlos exekutiert worden wäre. Dagegen waren Helmut Kohls schwarze Kassen wirklich eine üble Sache. Wer spricht heute noch davon? Warum diese fast sadistische Freude, dem Ex-Bundespräsidenten einen letzten Tritt zu versetzen, obwohl er schon am Boden liegt? Ich habe genug davon, von meinen Tresengefährten in meinem Stammcafé schon am frühen Morgen mit der Moralkeule bedroht zu werden! Genug davon, dass die Gespräche beim Abendessen von diesem eindimensionalen Thema vereinnahmt werden! Genug von dem Sturzbach an wütendem Neid auf den Internetseiten! Na, warum dann keinen Ehrensold für die Müllmänner! Und ein Daimler samt Chauffeur, bitte schön! Über wen urteilt man hier? Über einen Verbrecher? Einen Folterknecht? Eine Korruptionsaffäre von staatlichen Dimensionen? Ich erinnere mich noch, mit welcher Überraschung ich bei meiner Ankunft in Deutschland Sachbücher mit dem Titel „Steuertricks für jedermann“ entdeckt habe, zwei zum Preis von einem, Ausgaben auf Staatskosten – wer lehnt schon ab, wenn er weniger bezahlen kann? Und wer regt sich auf seinem Flugzeugsitz auf („Nein danke, meine Holzklasse genügt mir völlig“), wenn ihm ein Upgrade in die Businessklasse angeboten wird, dazu ein kostenloses Glas Moët & Chandon? Die Maßlosigkeit dieser Diskussion wirft ein wenig schmeichelhaftes Licht auf Deutschland.

Erinnern Sie sich an die Fülleraffäre von Nicolas Sarkozy am Beginn seiner Amtszeit? Bei einem offiziellen Besuch in Bukarest unterzeichnet er neben dem rumänischen Staatspräsidenten einen Vertrag über eine strategische Partnerschaft. Unser Präsident ist offensichtlich fasziniert von dem Mont Blanc, den man ihm für die Unterschrift geliehen hat. Er betrachtet den Füller, rollt ihn zwischen den Fingern, seine Augen glänzen, seine Nasenflügel vibrieren vor Begeisterung. Er beugt sich zu seinem Nachbarn hinüber. Man ahnt, dass er darum bittet, ihn mitnehmen zu dürfen. Und hopp, Sarko lässt ihn in der Jackentasche verschwinden. Glücklich. Stellen Sie sich den Skandal in Deutschland vor! Die kilometerlangen Predigten in den Leitartikeln! Das selbst ernannte Tribunal am Tresen meines Stammcafés! Monatelang haben die Franzosen schallend gelacht, wenn sie sich die Szene auf Youtube angesehen haben. Zweifellos ungehörig, unwürdig des Präsidentenamts. Aber Louis de Funès hätte es nicht besser machen können!

Also bitte schön! Werfen Sie nichts mehr, das Maß ist voll, sagt eine französische Redensart. Weise wenden wir uns zurück zur Vase mit den Tulpen. Dieser wunderbare Augenblick, wenn sie der Schwerkraft nachgeben und erschöpft einnicken. Der Strauß sinkt lasziv in sich zusammen. Eins nach dem anderen bedecken die Blütenblätter den Tisch. Eine Tulpe ist keine Rose, weit gefehlt. Sie ist nicht die Königin der Blumen, aber doch eine wahre Schönheit, robust, ein eigener Wert. Ja, würdig. Wenn ich mir einen Rat erlauben darf: Lassen Sie Wulff in Ruhe. Vergessen Sie Ehrensold, Sekretärin, Zapfenstreich und all das. Lassen Sie die Justiz ihre Arbeit tun. Kaufen Sie sich heute Morgen einen üppigen Strauß Tulpen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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