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Alexis Tsipras, der neue griechische Premier, versteht unter Reformen etwas ganz anderes als die meisten seiner EU-Kollegen.

© AFP

Reformen in der EU: Ein Hoffnungswort als Kampfbegriff

Fast alle in Euroland, allen voran die Bundesregierung, fordern von Griechenland eine "Fortsetzung des Reformkurses". Aus dem schönen, alten Wort "Reform" ist ein Kampfbegriff geworden. Es wird unkritisch und inflationär verwendet. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Schumann

Die Eurokrise hat wieder Fahrt aufgenommen, und erneut hat ein schönes, altes Wort Konjunktur: die Reform, genauer gesagt die Strukturreform. Finanzminister Wolfgang Schäuble etwa mahnt gerne seine Kollegen im übrigen Europa, sie sollten nicht ihren „Reformeifer verringern“. Bei den „Reformauflagen“ für Griechenland dürfe es auch keine Abstriche geben. Überhaupt seien „Strukturreformen ohne jede Alternative, wenn es wieder dauerhaft nach oben gehen soll“, sagt der Minister und weiß sich darin mit allen von der Eurofront einig – ob Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, EZB-Chef Mario Draghi oder Christine Lagarde an der Spitze des Internationalen Währungsfonds. Und so trommeln sie und ihre Gefolgsleute in Politik, Wissenschaft und Medien landauf, landab für die „Fortsetzung des Reformkurses“ in den Euroländern und gegen die „Reformverweigerer“ von Paris bis Athen. Doch merkwürdig – bei all ihrem Wortgeklingel bleiben die Reformprediger verdächtig vage mit Angaben dazu, was genau sie meinen. Reformen können schließlich alles Mögliche sein. Angezeigt wäre etwa eine Reform der antiquierten Kleinstaaterei im europäischen Steuerwesen. Indem jede EU-Regierung ihr nationales Steuerrecht nutzt, um mit großzügigen Nachlässen Investoren anzulocken, haben alle gemeinsam so große Lücken bei der Besteuerung von Kapitalgewinnen geschaffen, dass den Staatskassen Jahr für Jahr mehrere hundert Milliarden Euro entgehen – Einnahmen, die zur Senkung der Defizite doch hoch willkommen sein sollten. Strukturell gäbe es auch im Finanzsektor richtig was zu tun.

Viele Finanzkonzerne etwa sind heute sogar noch größer als damals

Nie wieder sollten „Banken so groß sein, dass sie Staaten erpressen können“, hatte Angela Merkel 2009 versprochen. Doch viele Finanzkonzerne sind heute sogar noch größer als damals, und unabhängige Fachleute wie der Ökonom Martin Hellwig, Direktor am Max-Planck-Institut für Gemeinschaftsgüter, warnen, dass beim nächsten Crash erneut Steuermilliarden zum Freikauf von Pleitebanken und ihren Gläubigern fließen werden, weil sonst der Zusammenbruch droht. Diese Struktur schreit geradezu nach Reform.
Aber solche unangenehmen Aufgaben haben die Eurostrategen in Brüssel, Frankfurt und Berlin nicht im Sinn, wenn sie nach Strukturreformen rufen, die sie auch gerne mit dem Wörtchen „schmerzhaft“ garnieren. Denn gemeint ist nur der Schmerz derer, die sich nicht so gut wehren können wie die Finanzbranche.
Darum sind zum Beispiel die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer vor Willkür und Ausbeutung ihr bevorzugtes Ziel. Als „Liberalisierung des Arbeitsmarktes“ bekommt die Bevölkerung in den Krisenländern, die von den Notkrediten der anderen Eurostaaten abhängig sind, das schon seit Jahren zu spüren. „Reformauflage" war es dort, den Kündigungsschutz zu schleifen und Tarifverträge abzuschaffen, um auf diesem Wege die Löhne zu senken. Das sollte die „Wettbewerbsfähigkeit“ steigern und die Konjunktur ankurbeln.
Eingetreten ist das Gegenteil. Der Kollaps der internen Nachfrage trieb zahllose Betriebe in den Ruin, und weil selbst gut qualifizierte Akademiker nur noch Hungerlöhne erzielen, verlassen die besten jungen Leute in Massen ihre Heimat und fehlen nun für den Wiederaufbau.
Von vergleichbarer Qualität sind auch die durchgesetzten Reformen der staatlichen Institutionen, die mit der Entlassung von Ärzten und Lehrern Einsparungen brachten, in deren Folge die Kindersterblichkeit steigt und das Bildungswesen verkommt. Kein Wunder, dass viele Bürger das Wort Strukturreform nur noch als Kampfbegriff verstehen, der sich gegen die kleinen Leute richtet.
Dennoch wird es meist unkritisch und inflationär verwendet. Das erfährt dieser Tage auch Griechenlands neuer Finanzminister Yanis Varoufakis. Kaum ein Interview vergeht ohne die Frage, ob seine Regierung „die strukturellen Reformen“ der Vorgängerregierung wie Kürzung des Mindestlohns und die Massenentlassung der Staatsangestellten „zurücknehmen“ wolle. Und stets muss er dann die Frager aufklären, dass seine Regierung „die wirklichen Strukturreformen“ überhaupt erst angehen werde, also die Medien des Landes aus der Macht der Oligarchen befreien, das Steuerrecht auch gegen die Reichen durchsetzen und die Korruption bekämpfen, damit der Bau von Straßen in seinem Land nicht mehr dreimal so viel kostet wie in Deutschland.
So verstanden könnte die Reform auch wieder zu dem werden, was sie einst war: ein Wort der Hoffnung auf bessere Zeiten.

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