zum Hauptinhalt
Barrikaden in den Farben der Ukraine, in Blau und Gelb auf Autoreifen gemalt. Momentaufnahme in Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit. .

© dpa

Vor der Präsidentschaftswahl: Im Ukraine-Konflikt geht es um die Freiheit

Die Proteste auf dem Maidan in Kiew waren ein nachgeholtes 1989, ein Aufstand gegen ein überholtes System. Deshalb darf der Westen nicht nur geopolitischen Erwägungen folgen. Es wäre zynisch, dem Land einen Weg zu versperren, den Nachbarstaaten wie Polen schon gegangen sind.

Der Präsident der Ukraine hieß noch Viktor Janukowitsch und der Maidan war nur ein trostloser, überdimensionierter Platz in Kiew, als ein ukrainischer Diplomat bei einem Besuch in einer europäischen Hauptstadt einen bemerkenswerten Vergleich zog: Das geplante Abkommen mit der EU habe für die Ukraine eine ähnliche Bedeutung wie der Fall der Mauer 1989 für andere europäische Länder. Einige der Zuhörer schienen skeptisch. War dieser Vergleich nicht ein bisschen zu hoch gegriffen, ein bisschen viel Pathos? Der Diplomat konnte damals nicht wissen, dass sein Präsident sich wenig später weigern würde, das Abkommen mit der EU zu unterzeichnen, und dass sich deshalb in der Ukraine tatsächlich eine Protestbewegung bilden würde, die an 1989 erinnert. Jetzt steht die Ukraine an einem Wendepunkt. Das Land hat mit den Protesten auf dem Maidan nach 25 Jahren nachgeholt, was sich die Menschen in Polen, Tschechien und Ostdeutschland bereits 1989 erkämpft haben.

Einen ersten Anlauf hatte es bereits in der Orangen Revolution 2004 gegeben. Doch die „Helden“ dieser Revolution, Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko, verspielten das in sie gesetzte Vertrauen. Statt das Land durch Reformen wirklich voranzubringen, lieferten sie sich einen kleinlichen Machtkampf. So kam am Ende Viktor Janukowitsch an die Macht, in demokratischen Wahlen. Er machte dort weiter, wo das alte System 2004 aufgehört hatte, dessen korrupte Strukturen zum großen Teil noch intakt waren.

Als Ende November vergangenen Jahres die Proteste auf dem Maidan begannen, forderten die Demonstranten zunächst eine Hinwendung nach Europa: Der Präsident sollte das Abkommen mit der EU unterzeichnen. Aber nachdem die Sicherheitskräfte kurze Zeit später den Protest brutal niedergeknüppelt hatten, wurde klar, dass es um viel mehr ging als um die künftige geopolitische Orientierung des Landes, um die Wahl zwischen Europa und Russland. Wofür gehen Menschen auf die Straße? Wofür harren sie dort bei eisiger Kälte wochen- und monatelang aus? Wofür riskieren sie ihre Gesundheit, ihre körperliche Unversehrtheit, ja am Ende sogar ihr Leben? Doch nicht für ein Stück Papier, das nicht einmal einen Beitritt der Ukraine in die EU in Aussicht stellt – und schon gar nicht für amerikanische Dollars, wie Propagandisten und Verschwörungstheoretiker uns gern glauben machen würden.

Auf dem Maidan ging es um die Frage: Wollen wir in einem demokratischen Rechtsstaat leben?

Im Kern ging es auf dem Maidan darum, in welchem Land die Ukrainer künftig leben wollen: in einem korrupten Staat, in dem Oligarchen die Fäden ziehen und sich eine kleine Machtclique unfassbar bereichert? Oder in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem ihre Kinder grundsätzlich die gleichen Chancen haben können wie die Kinder eines Ministers? Aus einem Protest für die Annäherung an Europa wurde ein Protest gegen ein erstarrtes, korruptes Regime, für die Zukunft der eigenen Kinder – und letztlich für Freiheit und Bürgerrechte. Länder wie Polen, die baltischen Staaten und Tschechien haben diese Entwicklung seit einem Vierteljahrhundert hinter sich. Es wäre zynisch, der Ukraine aus geopolitischen Erwägungen zu verweigern, denselben Weg zu gehen wie ihre Nachbarn, sofern die Bürger das wollen.

Claudia von Salzen ist Politikredakteurin des Tagesspiegels.
Claudia von Salzen ist Politikredakteurin des Tagesspiegels.

© Kai-Uwe Heinrich tsp

Anders als in anderen Ländern Osteuropas 1989 blieb die Revolution in Kiew nicht friedlich. Am Ende fielen Schüsse, mehr als 100 Menschen starben. Als Zeichen der Solidarität und der Trauer um die Toten stellten viele Bürger in Polen an einem Februarabend Kerzen in ihre Fenster. Denn das hatten Menschen in der ganzen Welt auch getan, nachdem in Polen 1981 das Kriegsrecht verhängt worden war. Und auf den Tag genau sechs Monate nach dem Beginn der Proteste auf dem Maidan wurden in Prag und zahlreichen anderen tschechischen Städten ukrainische Fahnen gehisst. Das sind kleine Gesten. Aber sie zeigen, dass der Maidan in Tschechien und in Polen als das verstanden wird, was er ist: ein nachgeholtes 1989, eine Freiheitsbewegung.

Ganz anders in Deutschland. Größere Bekundungen von Solidarität und Mitgefühl hat es hier nicht gegeben. Die öffentliche Debatte um die Toten auf dem Maidan wurde schnell von der Frage dominiert, wer da eigentlich geschossen habe. Natürlich muss dies dringend aufgeklärt werden. Doch die Diskussion in Deutschland geriet in eine Schieflage, weil ohne gesicherte Erkenntnisse suggeriert wurde, die Demonstranten seien wohl irgendwie selbst schuld an den tödlichen Schüssen.

Die Deutschen sollten nicht den alten Herren der Sozialdemokratie folgen

Barrikaden in den Farben der Ukraine, in Blau und Gelb auf Autoreifen gemalt. Momentaufnahme in Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit. .
Barrikaden in den Farben der Ukraine, in Blau und Gelb auf Autoreifen gemalt. Momentaufnahme in Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit. .

© dpa

Die Deutschen sollten nicht die Fehler der bundesdeutschen Sozialdemokratie aus den 80er Jahren wiederholen. In deren Ostpolitik erschienen die Aktivisten der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc als Störenfriede, die zudem noch unberechenbar waren. Aus Egon Bahrs berühmtem Motto „Wandel durch Annäherung“ war in dieser Spätphase der Ostpolitik längst die Hoffnung auf echten politischen Wandel in den Staaten östlich des Eisernen Vorhangs gestrichen worden. Jetzt ging es um Stabilität durch Annäherung und Dialog. Die Machthaber in Warschau oder Moskau sollten nicht dadurch verärgert werden, dass man eine kleine neue Protestbewegung unterstützte. Die Solidarität mit einer Bürgerbewegung, die doch für Freiheit und europäische Werte eintrat, wurde der „Realpolitik“ geopfert.

Helmut Schmidt spricht der Ukraine indirekt ab, eine eigenständige Nation zu sein

Solidarnosc hat ihren Weg zum Glück auch so gemacht. Denn ohne diese polnische Freiheitsbewegung wäre der 9. November 1989 gar nicht denkbar gewesen. In Deutschland wird das gern vergessen. Dagegen feiern die Deutschen den früheren sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow seit mehr als zwei Jahrzehnten frenetisch dafür, den Mauerfall ermöglicht zu haben. Ein weit verbreitetes Muster im deutschen Diskurs: In dieser Logik gibt es nur Deutschland und Russland (oder früher die Sowjetunion), die kleineren Länder dazwischen kommen als eigenständige Akteure nicht vor.

Leider setzt sich diese Argumentationsweise bis heute fort, übrigens besonders bei den alten Herren der Sozialdemokratie. So sprach Altkanzler Helmut Schmidt der Ukraine indirekt ab, eine eigenständige Nation zu sein. Dabei gab es bereits im 19. Jahrhundert eine ukrainische Nationalbewegung, zeitgleich mit ähnlichen Bewegungen in anderen Gegenden Europas. Wer die Ukraine nicht als eigenständige Nation begreifen will, meint damit implizit: Falls der Staat geteilt wird und damit aufhört, in der jetzigen Form zu existieren, wäre das eigentlich auch nicht so schlimm. Wenn das Völkerrecht in diesem Fall nicht gelten soll, wenn wir es einfach hinnehmen, dass ein Staat sich Teile eines Nachbarstaats einverleibt, wo soll das dann enden? Ganz zu schweigen davon, dass aus dieser Position eine unerträgliche Arroganz gegenüber dem „kleineren“ Land spricht.

Und sollten ausgerechnet Deutsche und Russen gemeinsam definieren, welche Staaten in ihrer Mitte eine „echte“ Nation sind – und welche man auch irgendwie anders aufteilen könnte? Das weckt bei unseren östlichen Nachbarn albtraumartige Assoziationen. Dieselben Leute, die der Ukraine geradezu beiläufig das Existenzrecht absprechen, haben ungewöhnlich viel Verständnis für das Vorgehen Russlands. Dahinter steckt wieder der alte Irrglaube aus den 80er Jahren, dass die „Stabilität“ unbedingt gewahrt werden muss, und zwar im Dialog mit Moskau. Das Recht der Ukraine und ihrer Bürger, über ihr Schicksal und ihre Zukunft selbst bestimmen zu dürfen, kommt dabei unter die Räder.

Kaum ein anderes Thema polarisiert die deutsche Öffentlichkeit so sehr

Im politischen Berlin finden diese Positionen nur noch wenig Anklang, die Vertreter des „Wandels durch Annäherung“ und der „Annäherung durch Verflechtung“ sind leiser geworden oder rudern zurück, weil selbst das größte Verständnis für Russlands Präsident Wladimir Putin bisher nicht zu einem Einlenken des Kremls geführt hat. Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Deutschen den Kurs der Bundesregierung im Ukraine- Konflikt unterstützt.

Allerdings polarisiert das Thema die deutsche Öffentlichkeit so stark wie nur wenige andere Themen, wie sich in Leserbriefen, Online-Kommentaren und privaten Gesprächen zeigt. Viele Kritiker der deutschen und europäischen Haltung in der Ukraine-Krise verteidigen das Vorgehen Russlands. Für die Ukraine selbst scheinen sich die meisten von ihnen gar nicht wirklich zu interessieren. Zum Teil werden Stereotype der russischen Propaganda undifferenziert übernommen, wenn beispielsweise die gesamte Regierung in Kiew als faschistisch dargestellt wird.

Dabei steht außer Frage, dass es in der Ukraine gravierende Probleme gibt. Die Beteiligung der rechten Partei Swoboda an der Übergangsregierung war ein Fehler. Aber Umfragen zeigen, dass diese Partei heute viel weniger Rückhalt in der Bevölkerung hat als zu Zeiten des Ex-Präsidenten Janukowitsch. Damals war das Erstarken von Swoboda für dieselben Leute, die sich heute darüber aufregen, leider kein Thema.

Die Krise markiert ein Ende der Illusionen über Putins Russland

Barrikaden in den Farben der Ukraine, in Blau und Gelb auf Autoreifen gemalt. Momentaufnahme in Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit. .
Barrikaden in den Farben der Ukraine, in Blau und Gelb auf Autoreifen gemalt. Momentaufnahme in Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit. .

© dpa

Ähnliches gilt für die Rolle der Oligarchen in der Ukraine: Man kann es bedauern, dass die Ukrainer an diesem Sonntag wahrscheinlich einen Oligarchen zum Präsidenten wählen werden. Die Oligarchen zählen zu den alten Eliten, die noch unter dem autoritären Regime des früheren Präsidenten Kutschma eine bestimmende Position in der ukrainischen Politik erhalten hatten. Die Übergangsregierung ist jetzt drei Monate im Amt, im Osten des Landes kämpfen Separatisten gegen Sicherheitskräfte. Kann man der neuen Führung in Kiew zum Vorwurf machen, dass sie die Oligarchen noch nicht entmachtet hat? Die Ukraine befindet sich auf den ersten Metern eines langen Transformationsweges, und ganz ohne Teile der alten Eliten ist das kaum zu schaffen. Der Ex-Boxer Vitali Klitschko, ein Liebling mancher westlicher Politiker und Medien, hatte auf eine Präsidentschaftskandidatur verzichtet und Platz für den verhandlungserfahrenen und landesweit bekannten Schokoladadenkönig Petro Poroschenko gemacht. Und die Bürgerbewegung auf dem Maidan war so heterogen, dass sie keinen gemeinsamen Kandidaten hervorbrachte. Aus der Kritik am politischen Personal in Kiew spricht auch eine Sehnsucht nach einer starken Führungsfigur.

Doch die Ukraine braucht keine Helden mehr, sondern eine starke Bürgergesellschaft, die den demokratischen Prozess auch jenseits des Maidan fortführt. Ein Blick ins Baltikum zeigt, dass das funktionieren kann: Dort gab es in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit in rascher Folge wechselnde Regierungen – mit dem einen oder anderen fragwürdigen Politiker. Der demokratischen Entwicklung der drei baltischen Staaten hat das am Ende nicht geschadet. Die ukrainische Gesellschaft hat bereits mit der Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen: In Janukowitschs protziger, geschmackloser Villa spüren Journalisten den korrupten Netzwerken nach, die das alte Regime gestützt haben. Ein Ansatz, der Hoffnung macht.

Die derzeitige Krise berührt offenbar den Kern des politischen Selbstverständnisses der Deutschen. Welches Europa wollen wir? Welchen Platz sollte Deutschland in der Welt haben? Sollte es eine Mittelposition zwischen den USA und Russland einnehmen, die von Äquidistanz nach beiden Seiten geprägt ist? Oder ist das Land Teil einer westlichen Wertegemeinschaft? Derzeit erleben wir eine Rückkehr des „Westens“ als politische Kategorie – dabei schien der Begriff aus der Zeit des Kalten Krieges längst verstaubt und unbrauchbar zu sein.

Für Europa bedeutet der Konflikt eine tiefe Zäsur

Gleichzeitig markiert die Krise in der Ukraine spätestens mit dem Anschluss der Krim ein Ende der Illusionen über Putins Russland. Die lange in Deutschland propagierte „Annäherung durch Verflechtung“ hat offensichtlich bisher nicht funktioniert. Wer hätte geglaubt, dass imperiale, völkisch konnotierte Großmachtambitionen im heutigen Europa noch einmal eine Rolle spielen würden? Denn genau darum geht es, wenn Putin den Anspruch erhebt, die Interessen von „Russen“ in jedem beliebigen Land zu beschützen, auch wenn sie keine russischen Staatsbürger sind.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde kürzlich mit den Worten zitiert, Putin lebe offenbar in einer anderen Welt. Das mag sein. Doch an diese Welt werden wir uns alle gewöhnen und mit ihr umgehen lernen müssen, wenn wir eine Antwort finden wollen, die Putin versteht. Nicht nur für die Ukraine, auch für Europa markiert der gegenwärtige Konflikt deshalb eine tiefe Zäsur.

Aber haben die Europäer das auch verstanden? Im Europawahlkampf spielte die Krise in der Ukraine nur am Rande eine Rolle. An diesem Wahltag und in der sicher nicht leichten Zeit danach sollte die Europäische Union nicht nur auf sich selbst blicken, sondern auch auf ihren östlichen Nachbarn. Diese Aufmerksamkeit und dieses Interesse haben die Menschen in der Ukraine verdient. Denn für die Ukrainer geht es nicht um Geopolitik, um die Zugehörigkeit zu Europa oder Eurasien. Es geht um ihre Freiheit.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false