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Amtsübergabe in Schloss Bellevue: Kanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Joachim Gauck, die neue Bildungsministerin Johanna Wanka und Vorgängerin Annette Schavan (von links)

© dpa

Nach Schavan: In Deutschland wird getreten und zurückgetreten

Deutschland hat kaum echte politische Skandale. Aber Hand aufs Herz: Eigentlich wollen wir mehr, oder? Noch immer sind wird überzeugt davon, dass das Böse in jedem von uns lauert. Der Appetit darauf verdirbt langsam die politische Kultur.

Von Anna Sauerbrey

In den Tagen, die auf den Rücktritt von Annette Schavan folgten, wirkte Berlin leicht verkatert. Die politische Klasse bekundete ihr Bedauern, der Unterton war reuig, mit einem zarten, melancholischen Beiklang. Kommentatoren und Vertreter des Wissenschaftsbetriebs betonten ihre Expertise und ihre Leistungen als Ministerin für Bildung und Forschung. Dass sie gehen musste, jetzt, da Wahljahr ist, hat niemand infrage gestellt. Dennoch gibt der Fall Anlass zur Diskussion: über den deutschen Appetit auf Skandale und die Lust an der moralischen Selbstgeißelung, wo immer man einen auftreiben kann, wie klein er auch sein mag. Dieser Zustand ist eine der Ursachen einer schwelende Krise unserer politischen Kultur.

Eigentlich ist Deutschland nämlich erstaunlich frei von Fällen schweren politischen Fehlverhaltens. Der letzte wirklich nahrhafte politische Skandal war die CDU-Spendenaffäre, aufgedeckt 1999, als Helmut Kohl und andere CDU-Granden zugeben mussten, über eine Million D-Mark an illegalen Parteispenden angenommen zu haben. Was danach kam, war dagegen magere Schonkost. Da war Ulla Schmidt, die dabei ertappt wurde, dass sie sich ihren Dienstwagen an ihren spanischen Urlaubsort bringen ließ. Da war Christian Wulff, der – unter anderem – zurücktreten musste, weil ein Filmproduzent ihm ein Mittelklasse-Hotelzimmer auf Sylt bezahlt hatte und er sich ein Bobby-Car hatte schenken lassen.

Und dann natürlich der Fall Karl-Theodor zu Guttenberg, der seine pompöse Doktorarbeit im Copy-und-Paste-Verfahren zusammengebastelt hatte, was einen öffentlichen Aufschrei auslöste, der ihn nicht nur zum Rücktritt, sondern gleich zum Auswandern in die USA bewegte. Und jetzt also Annette Schavan, die ihre Doktorarbeit 1980 an der Uni Düsseldorf geschrieben hat. Ein Blog konnte ihr Fehler beim Zitieren nachweisen, eine Kommission der Universität erkannte ihr den Titel ab – sicherlich ein bemerkenswerter Vorgang in einem Land, in dem Titel zu den besonders wertvollen Besitztümern gezählt werden. Trotzdem: Fußnoten als Rücktrittsgrund?

Man könnte unsere Skandalsucht als Schrulle belächeln, hätte sie nicht ernste Folgen

Amtsübergabe in Schloss Bellevue: Kanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Joachim Gauck, die neue Bildungsministerin Johanna Wanka und Vorgängerin Annette Schavan (von links)
Amtsübergabe in Schloss Bellevue: Kanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Joachim Gauck, die neue Bildungsministerin Johanna Wanka und Vorgängerin Annette Schavan (von links)

© dpa

Man muss unsere Skandale nicht einmal mit den Machenschaften chinesischer Provinzbeamter oder afghanischer Präsidenten vergleichen, um sie irgendwie mickrig zu finden. Hand aufs Herz: Eigentlich wollen wir mehr, oder?

Seit Jahren werfen investigative Journalisten neiderfüllte Blicke über die deutsch-französische Grenze, und beim Anblick der krossen, fetttriefenden Skandale auf dem Grill der Nachbarn läuft ihnen der Sabber am Kinn herunter: Nicolas Sarkozy unter Verdacht, Wahlkampfhilfe von der Milliardärin Liliane Bettencourt angenommen zu haben! Ein Geheimdienst, der Journalisten abhört! Die Vaterschaftsklage der ehemaligen Justizministerin Rachida Dati! Und das Sexmonster mit den drei Buchstaben: D.S.K.! Da sitzen wir nun wieder, eingepfercht in unserem eigenen Klischee. Während unsere Nachbarn sich am Champagner berauschen, kauen wir unser Skandal-Schwarzbrot.

Es ist merkwürdig, aber der Mangel an Skandalen und der Heißhunger darauf, wenn denn mal einer greifbar ist, scheinen mit einem anderen Wesenszug der Deutschen zusammenzuhängen, nämlich mit unserem historischen Misstrauen in das politische System an sich. Obwohl wir seit Jahrzehnten eine Nation von Gutmenschen sind, sind wir doch noch immer überzeugt, dass das Böse in jedem von uns lauert und besonders in denen, die zur politischen Elite gehören. Ist das nicht die eine Lehre, die uns unsere eigene Geschichte eingetrichtert hat wie sonst nichts, dass jedes politische System fehlbar ist, dass es nie genug Kontrolle den politischen Köpfen gegenüber geben kann? Wenn gerade nichts von all dem Bösen an der Oberfläche zu sehen ist, graben wir tiefer, bis wir etwas finden, irgendetwas, um uns selbst recht zu geben. Statt stolz darauf zu sein, in einem Land mit vergleichsweise wenig Korruption und einem vergleichsweise hohen Wohlstandsniveau zu leben, sind die Wähler ebenso wie die Massenmedien damit beschäftigt, den Regierenden Gardinenpredigten zu halten und sich selbst permanent misshandelt zu fühlen.

All das könnte man als nationale Schrulle belächeln, wenn es nicht schwerwiegende Folgen hätte. Immer weniger junge Talente wählen die Politik als Beruf. Wer will schon in einer Branche arbeiten, die in den Augen der Öffentlichkeit von Bösartigkeit gekennzeichnet ist? Die politischen Parteien, die als Sammelstelle und Kaderschmiede für die politischen Eliten von morgen dienen sollten, bekommen zunehmend Schwierigkeiten, genügend patente Leute für alle Bundes- und Landesämter zusammenzubekommen. Sicher, dafür gibt es noch andere Ursachen. Das große Geld macht man woanders. Aber der Idealismus, der junge Politiker zu Höchstleistungen antreiben sollte, ist ebenfalls weg.

In den Reaktionen auf den Rücktritt von Annette Schavan hingegen schwang ein neuer Ton mit. Berlin, die Hauptstadt des eitlen Dauernörgelns und der überschäumenden Kritikfreude, scheint kurz davor zu sein, innezuhalten und in sich zu gehen. Mancher beginnt sich zu fragen, ob wir nicht zu hart mit Politikern umgehen, die kleinere Fehler machen – um des Rechthabens willen. Annette Schavans Abgang von der politischen Bühne, der Abgang einer ordentlichen, aufrechten Bildungsministerin aus eher untergeordneten Gründen könnte zu einem Wendepunkt in der politischen Kultur der Bundesrepublik werden.

Die Autorin ist Mitarbeiterin der Meinungsredaktion des Tagesspiegels. Dieser Text ist zuerst in der New York Times erschienen. Hier geht es zur englischen Fassung auf den Seiten der New York Times.

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