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Meinung: Le Pen – mitten in Europa

Ein GASTKOMMENTAR von Pascale Hugues Beim Maastricht-Referendum 1992 sagten 65 Prozent der Elsässer und sogar 72 Prozent der Straßburger „Ja“ zur Europäischen Währungsunion. Sie hatten Lust, die Mauern ihrer kleinen, prosperierenden und traditionstreuen Region, die bei den Deutschen äußerst beliebt ist, zu sprengen.

Ein GASTKOMMENTAR von Pascale Hugues

Beim Maastricht-Referendum 1992 sagten 65 Prozent der Elsässer und sogar 72 Prozent der Straßburger „Ja“ zur Europäischen Währungsunion. Sie hatten Lust, die Mauern ihrer kleinen, prosperierenden und traditionstreuen Region, die bei den Deutschen äußerst beliebt ist, zu sprengen. 65.000 Elsässer überqueren jeden Morgen die Grenze, um in Deutschland oder der Schweiz zu arbeiten. Andere fahren zu den Caracala-Thermen in Baden-Baden, zu einem Spaziergang an den Titisee, Skilaufen in Engelberg, zu einem Museumsbesuch nach Basel, zum Volltanken über die Europabrücke nach Kehl und zum Lebensmitteleinkauf bei Aldi – dort ist es billiger als in Straßburg. Diese kleinen Ausflüge auf die andere Seite der Grenze sind Teil der Familienrituale geworden. Das Elsass, das seit Jahren dafür kämpft, das Europäische Parlament weiter in seiner Hauptstadt Straßburg zu beherbergen, ist eine der europäischsten Regionen Frankreichs.

Bei der ersten Runde der Präsidentenwahl haben nun 23,5 Prozent eben dieser Elsässer für Jean-Marie Le Pen gestimmt. Der Chef des Front National beeilte sich, anzukündigen, wenn er ins Elysée einziehe, werde seine erste Amtshandlung sein, Frankreichs Austritt aus der EU einzuleiten und den Franc wieder einzuführen. Im Elsass hat Jean-Marie Le Pen landesweit sein bestes Ergebnis erzielt. Und das war kein Zufallserfolg. Auch bei der Präsidentschaftswahl 1995 war er bereits obenauf. Die Zahl seiner treuen und überzeugten Wähler in der Region wird auf rund 200 000 geschätzt.

Zwei gegensätzliche Selbstbilder. Das eine zeigt ein Elsass, das weit offen ist für Europa, als dessen Epizentrum es sich empfindet, stets bereit zum Sprung über den Rhein, das die Grenzen abbaut. Das andere ein Elsass, das die Tür von innen verriegelt, introvertiert ist und ängstlich. Die Elsässer stehen seit jeher im Ruf, schizophren zu sein, das Herz zwischen Deutschland und Frankreich zerrissen. Der Generation meiner Großeltern musste viermal die Nationalität ändern – ohne den Wohnort zu wechseln. Sie tragen etwas von der „deutschen Seele“ in sich und würden doch nicht auf ihren „französischen Esprit“ verzichten. Diese einzigartige Mischung kann aber nicht das paradoxe Wahlergebnis vom Sonntag erklären.

Mich, die ich in Deutschland lebe, quält eine Frage: Diese Region hat so darunter gelitten, dass sie die deutsche Katastrophe teilen und ihre jungen Männer gegen ihren Willen zum Kampf in den Reihen der Wehrmacht opfern musste – wie können da so viele Leute ein halbes Jahrhundert später der Front-National-Demagogie des Hasses, des Rassismus und Antisemitismus hinterherlaufen? Wie kann es passieren, dass diese Déjà-vu-Eindrücke nicht allgemeine Übelkeit bei den Elsässern auslösen?

„Die Elsässer“, erklären Straßburger Intellektuelle, „haben ihre Nazi-Vergangenheit niemals aufgearbeitet. Deshalb gibt es kein Tabu.“ Eine verführerische Erklärung, aber etwas zu raffiniert. Die Erklärungen für die Front-National-Stimmen im Elsass sind profaner: ein verbreitetes Gefühl mangelnder Sicherheit, die Furcht vor der prekären Lage sowohl in den städtischen Vororten als auch in den ländlichen Gegenden, wo die Industrie seit langem marode ist.

Zwei Beobachtungen können den Eindruck einer Malaise, den ich beim Blick von Berlin auf meine Heimat empfinde, ein wenig verwischen: Erstens scheint das Kreuzchen beim Front National im Elsass wie im übrigen Frankreich immer noch ein Akt zu sein, dessen man sich schämt, den man heimlich in der Wahlkabine ausführt und dessen man sich nicht mit lauter Stimme rühmt. Zweitens sind 10 000 junge Straßburger spontan auf die Straße gegangen, als das Ergebnis am Sonntagabend bekannt wurde. Am 1. Mai ist weiterer Protest geplant.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“.

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