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Meinung: Öffentlich auf der Couch

Die Forderungen zum Umgang mit der NSA-Affäre legen die Komplexe der Europäer offen

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Die erste, die heroisch zum Schwert griff, um die amerikanischen Oberlauscher einen Kopf kürzer zu machen, war Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Kurz nach den ersten Veröffentlichungen über das Spähprogramm Prism schrieb sie einen Brief an ihren Amtskollegen in Washington und forderte sofortige Aufklärung. Das war der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Drohgebärden europäischer, zumeist deutscher Politiker.

Die SPD forderte, man möge Edward Snowden in ein deutsches Schutzprogramm aufnehmen. Verschiedene grüne Politiker schlugen vor, eine Beschwerde gegen die USA vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu prüfen. Frankreichs Präsident Francois Hollande drohte, den Verhandlungsbeginn über das Freihandelsabkommen platzen zu lassen. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel forderte die Bundesanwaltschaft auf, ein Ermittlungsverfahren gegen den NSA-Chef einzuleiten.

Da viele dieser Vorschläge sich als nicht praktikabel herausgestellt haben (das deutsche Asylrecht ist nicht anwendbar, den Internationalen Strafgerichtshof haben die USA nie anerkannt), hier ein paar Vorschläge für weitere Forderungen für den langen Wahlkampfsommer: Wie wäre es, wenn wir Altersbeschränkungen für McDonalds (ab 38) und Bruce-Springsteen-Konzerte (nur für unter 40-Jährige) einführen würden? So könnten wir, zumindest indirekt, der amerikanischen Wirtschaft und dem amerikanischen Staat empfindliche Einkommenseinbußen bescheren! Wir könnten auch den scheidenden US-Botschafter Philip Murphy festsetzen und ihn zu drei Milliarden Sozialstunden verurteilen, abzuleisten bei der Restauration der 1989 von der Stasi geschredderten Akten. Oder noch besser: Wir machen unser eigenes Internet! Aus Facebook wird Gesichtsbuch, aus Skype wird „Vid-Eu-phon“, und unsere Suchmaschine betreibt die Bundesnetzagentur unter der URL www.algorithmusbasiertes-suchanfragen-verarbeitungssystem.de. Har, har. Nimm das, Yankee!

In Wahrheit aber ist das Ganze zu ernst für Polemik. Im Gewand des Wahlkampfkrawalls werden hier die europäischen Minderwertigkeitskomplexe zelebriert – und das ist kein schöner Anblick. Das verbale Randalieren hat eher therapeutischen als politischen Wert, das zeigt schon die magere Bilanz auf der Taten- und Habenseite: Für den Vorschlag, die Aufnahme der Freihandelsgespräche zu verschieben, fand sich weder im EU-Parlament noch unter den Regierungschefs eine Mehrheit. Und der Brandbrief der deutschen Justizministerin ist heute, fast einen Monat nach Versand, noch immer nicht beantwortet.

Vielleicht liegt das daran, dass sie in Amerika das Papier ins Labor gegeben haben. Auftrag: Findet heraus, was das für ein seltsames analoges Material ist und aus welcher Epoche es stammt. Denn darin liegt die tiefere Ursache der hiesigen Komplexe: Die Europäer haben Schwierigkeiten, im Cyber-Zeitalter anzukommen (ausgenommen offenbar die Briten). Die Umstellung von der analogen auf die digitale Geheimdienst- und Militärtechnik fordert enorme Investitionen. Und die USA und China haben nicht nur investiert, um den Status quo zu ersetzen, sondern massiv aufgerüstet. Sie haben Hackerarmeen und Cyberabwehrzentren geschaffen und die Kapazitäten ihrer Geheimdienste erweitert – in Größenordnungen, von denen die Europäer nur träumen können.

Nur ein Beispiel: Im September wird das neue Datenzentrum der NSA in Utah fertig. Allein dort werden 200 Techniker arbeiten, der Bau kostet 1,7 Milliarden Dollar. Insider sagen, man könne dort pro Minute so viele Daten speichern, wie die Library of Congress enthält. Auch der BND rüstet auf. Bis 2018 will er nach Spiegel-Informationen 100 Millionen Euro in sein „Technikaufwuchsprogramm“ investieren und 100 neue Mitarbeiter. Das sind die Dimensionen.

Nun könnte man sagen: Gut so. Die Technik macht vieles möglich, aber wir wollen „Good Old Europe“ bleiben, ein Artenschutzgebiet für bürgerliche Rechte inmitten der globalen Freiheitsabholzung. Doch das europäische Hinterherhinken ist nicht Folge reiflicher politischer Abwägung, sondern politischen Unvermögens.

Um in der Liga der Großen mitzuspielen (und sei es nur, um Angriffe effektiver abwehren zu können), wären wohl Investitionen notwendig, die selbst ein reiches Land wie Deutschland nicht allein stemmen könnte. Wie immer stehen sich die Europäer in ihrer Uneinigkeit selbst im Weg.

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