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PORTRÄT KEREM ÖKTEM DEUTSCHER OXFORD-FORSCHER: „Die Deutschen brauchen mehr: Pragmatismus“

Auch er ist damals „zurück-“ gegangen, in das Land, das Deutschland für seine Heimat hielt. Kerem Öktem aus Gelsenkirchen war 13, als seine Eltern 1984 wieder in die Türkei wollten.

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Auch er ist damals „zurück-“ gegangen, in das Land, das Deutschland für seine Heimat hielt. Kerem Öktem aus Gelsenkirchen war 13, als seine Eltern 1984 wieder in die Türkei wollten. Es war die Zeit der Rückkehrprämie, von der kürzlich bekannt wurde, dass Helmut Kohl, der spätere Kanzler der Einheit, damit die Zahl der türkischen „Deutschländer“ auf die Hälfte drücken wollte. Öktems Eltern – der Vater Urologe, die Mutter Kunsthistorikerin – waren nun zwar nicht die Adressaten der Prämie. Aber auf dem Alman Lisesi, der deutschen Schule in Istanbul, die er nun besuchte, gab es viele Kinder, die genau auf diese Weise aus ihrer deutschen Heimat gerissen worden waren. „Das hat mich sehr geprägt.“ Öktem ging erneut zurück, nach Hamburg, wo er sein Istanbuler Studium abschloss, Architektur und Stadtplanung. Dass er seit 13 Jahren in England lebt und dort eher als Politikwissenschaftler arbeitet, liege daran, dass die Engländer Fachgrenzen lockerer nähmen. Dass Stadtplanung und Politik zusammengehören, habe zuletzt auch der Streit um den Gezi-Park gezeigt: „Da war mit Händen zu greifen, wie politische Motivation aus der Stadt entstand.“

Öktems unorthodoxer Blick konnte sich kürzlich in einem Projekt bewähren, das ihn wieder in die erste Heimat führte. Er untersuchte die Wirkung der Beschneidungsdebatte 2012 auf Juden und Muslime. „Wir haben versucht, die Perspektive umzudrehen: Was machen diese manchmal sehr aggressiven Debatten mit dem Sicherheitsgefühl der Betroffenen?“ Sein Team fand heraus: Während die Muslime den Streit um Beschneidung eher resigniert als Teil einer allgemein feindseligen Debatte sahen, stellten sich Juden erstmals die Frage, ob sie in Deutschland eine Zukunft hätten. Wie es möglich sei, dass die Ritualmordlegende wieder auftauchte, warum selbst Akademiker mit antisemitischen Versatzstücken hantierten. Öktem wundert sich weniger: „Rassismus ist in Großbritannien eher ein Unterschichtenphänomen, in Deutschland eins der Bildungsbürger.“

Öktem, der auch britischer Staatsbürger ist, empfiehlt das britische Beispiel. Während in emotionsgeladenen Debatten wie der um die Beschneidung „viele Gräben gezogen und Brücken zerstört“ würden zwischen Mehr- und Minderheit, debattierten die Briten pragmatisch: „Wenn es Probleme gibt, fragt man: Wie können wir sie abstellen? Deutsche fragen: Was ist deutsche Identität?“ Die Deutschen, findet Öktem, brauchten einfach „mehr Pragmatismus“. Andrea Dernbach

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