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Regierende in Probezeit: Die drohende Wahlwiederholung als Chance für Berlin
Gezänk statt pragmatischer Zukunftsgestaltung? Der SPD-Parteitag zeigt, warum die Zeit vor einer neuen Wahl auch Gutes für die Stadt bereithalten könnte.

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Franziska Giffey spricht gern von der „funktionierenden Stadt“. Vor ihrer Wahl als Regierende Bürgermeisterin nutze sie den Slogan, um für sich als Garantin eines Wandels zum Besseren in dieser Stadt zu werben. Ihr patentes Auftreten und die Aussicht auf einen pragmatischen Politikstil überzeugten eine Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner. Und zwar nicht nur die SPD-Stammwähler.
Auch 7.000 CDU-Anhänger sowie 45.000 Nichtwähler – so viele wie bei keiner anderen Partei – gaben der SPD und ihrer Spitzenkandidatin ihre Stimme. Giffeys Versprechen, schlicht wie bestechend: durch gutes Regieren Berlin als Bundeshauptstadt in die Zukunft zu führen.
Doch statt der Gestaltung großer Zukunftsthemen sind die Regierende und ihre Koalition seit Amtsbeginn vor allem mit akutem Krisenmanagement in der Gegenwart beschäftigt – und mit Vergangenheitsbewältigung. Die Wahl, die Giffey zur Regierenden machte: pannenhaft. Und wahrscheinlich, so sieht es das Landesverfassungsgericht, wiederholungswürdig. Berlin, die funktionierende Stadt?
Vorzeitige Kündigung droht
Seit der vorläufigen Einschätzung des Gerichts Ende September ist Franziska Giffey eine Regierungschefin in Probezeit. Und die SPD ist Regierungspartei auf Abruf. Was sonst nur Personen in normalen Arbeitsverhältnissen betrifft, gilt jetzt auch für Giffey und ihre Partei: Ihnen könnte vorzeitig gekündigt werden.
Unter diesem Eindruck fand nun am Samstag in Neukölln ein Parteitag statt. Die unsichere Gemengelage war dabei deutlich spürbar: Streitereien wie noch beim vorangegangenen Parteitag im Sommer gab es nicht. Stattdessen: Ein Bild der Geschlossenheit und Harmonie. Denn beide Akteure – Partei wie Regierende – wissen, dass sie nur gemeinsam die Probezeit bestehen können.

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Für die SPD ist es ein Glück, dass Giffey für die in vielen Wahlbezirken misslungene Wahl nicht zuständig war. Sie ist jedenfalls in dem Punkt frei von jeder Verantwortung. Für Giffey wiederum ist es Pech, dass ausgerechnet ihre Partei mindestens mitverantwortlich für die verkorkste Wahlorganisation ist. Und dass noch dazu einer ihrer besonders geschätzten Kollegen, Andreas Geisel, als Innensenator für die Wahl zuständig war.
Im Spannungsverhältnis zwischen Glück und Pech bilden die SPD und ihre neue alte Spitzenkandidatin eine Schicksalsgemeinschaft.
Anna Thewalt
In diesem Spannungsverhältnis zwischen Glück und Pech bilden die SPD und ihre neue alte Spitzenkandidatin eine Schicksalsgemeinschaft. Sie müssen gemeinsam erfolgreich sein – sonst könnte es mit der Gestaltungsmacht in Berlin bald schon für beide vorbei sein. Eine Niederlage in Berlin wäre auch für die Bundes-SPD und Kanzler Olaf Scholz ein bitteres Signal.
Sollte sich das Gericht am Mittwoch tatsächlich für eine Wahlwiederholung aussprechen, ist der Wahlkampf endgültig eröffnet – und die bereits jetzt gefühlte Probezeit wird für die Regierende zur Realität.
In einer Probezeit geht es gemeinhin darum, dass eine Arbeitskraft ihre tatsächliche Befähigung für die betreffende Arbeit nachweisen muss. Und genau darin liegt – neben allem Ärgernis für die Berlinerinnen und Berliner – auch das Gute. Es stimmt: Die drohende Wahlwiederholung hat vorzeitig den Wahlkampf eingeläutet und Spannungen in der Koalition verschärft. Der Stadt droht zudem in einem von gleich mehreren Krisen geprägtem Winter eine Regierung, deren Handeln für Monate nur auf das Nötigste reduziert sein dürfte. Ein wackeliger Schwebezustand mit Wahlgezänk statt pragmatischer Zukunftsgestaltung.
Doch die Probezeit birgt auch Chancen. Eine davon dürfte bereits eingelöst worden sein. Berlin hat, anders als andere Bundesländer, ein umfangreiches Entlastungspaket für die Bewältigung der Energiekrise vorgelegt – es ist auch unter dem Druck einer möglichen Wahlwiederholung so schnell entstanden. Die Parteien wiederum müssen sich zusammenraufen und sich auf ihr Profil besinnen.
Bei der SPD führte das am Samstag bereits dazu, dass sie ihr Bild der sozialen Partei der Mitte geeint nach vorne stellten – statt wie im Sommer noch innerparteiliche Konflikte auszutragen.
Insbesondere für die SPD und ihre Koalitionspartner Grüne und Linke gilt der Spagat, einerseits die eigenen Stärken zu bewerben, während andererseits trotzdem die Koalitionsarbeit bis zum Wahltermin nicht vollkommen erlischt. Denn das wäre in diesen Zeiten fatal. Die Berlinerinnen und Berliner können dann bewerten, wem dieser Spagat am besten gelungen ist. Und ob der Regierenden ihre Amtszeit verlängert wird. Die Probezeit – sie könnte für Berlin funktionieren.
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