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Zu viel Geld mit zu wenig Wirkung: Der deutsche Sozialstaat ist nach Meinung der Autorin nicht effizient genug organisiert.

© Getty Images/the_burtons

Schwarz-rote Denkblockaden: Diese Koalition ist eine Gefahr für den Sozialstaat

Bei Schwarz-Rot herrscht Kommissionitis statt Tatendrang. Wenn aus dem Herbst der Reformen etwas werden soll, müssen Union wie SPD eigene Glaubenssätze dem Realitätscheck unterziehen.

Karin Christmann
Ein Kommentar von Karin Christmann

Stand:

Mehr ist besser. Nach diesem Motto wurde der Sozialstaat in den vergangenen Jahrzehnten weiter und immer weiter ausgebaut. Bundeskanzler Merz hat recht mit der unschönen Wahrheit, dass das alles im liebgewonnenen Umfang nicht mehr lange zu finanzieren sein wird.

Die Union beschwört den „Herbst der Reformen“. Wie in einer zünftigen Wagner-Oper braut sich das schwarz-rote Koalitionsdrama am wolkigen Horizont zusammen. Allein: Die Merz’schen Appelle wären weitaus überzeugender, wenn es nicht seine Schwesterpartei CSU wäre, die ausgerechnet die milliardenschwere Ausweitung der Mütterrente durchgedrückt hätte. Dieses Projekt ist sehr teuer, wenig effektiv, viel zu kompliziert und unfair gegenüber Jüngeren.

Das klingt wie die Problemlage des Sozialstaats im Großen und Ganzen. Jeder Einzelfall ist bis in die letzten Eventualitäten und lebensweltlichen Verwinkelungen reglementiert. Darüber ist jedoch der Gedanke verloren gegangen, dass Menschen – hört, hört – ab und an auch selbst Verantwortung tragen für Lebensentscheidungen, die sie an den einen oder anderen Punkt geführt haben. Aus dieser Verantwortung erwachsen womöglich auch einmal unschöne Konsequenzen.

Der Sozialstaat ist ein Reparaturbetrieb

Der Sozialstaat, so wie er ist, ist außerdem viel zu oft ein Reparaturbetrieb. Er wartet ab, bis die Dinge schiefgelaufen sind. Dann wird sehr viel Geld ausgegeben, mit dem nur noch wenig zu erreichen ist. Dieses Prinzip gehört umgedreht, Chancengerechtigkeit lautet das Stichwort.

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Die ist aber mit immer nur mehr Geldtransfers nicht zu bekommen. Gerade an den bedrückenden, beklagenswerten Lebensumständen benachteiligter Kinder und Jugendlicher lässt sich durch Geld viel zu wenig ändern, wenn es nicht in Schulen, Kitas und der öffentlichen Infrastruktur ankommt.

Die Probleme sind aber noch konkreter: Deutschland läuft auf eine harte demografische Krise zu, bestens beschrieben und gut vorhersehbar. Bei Pflege, Gesundheit und Rente sind die Probleme längst riesig und mindestens bei den ersten beiden dieser Systeme auch akut.

Schwarz-Rot zaudert jedoch. Während der Koalitionsverhandlungen brach akute Kommissionitis aus. Der Infekt verbreitete sich rasend schnell durch die Arbeitsgruppen und Leitungsebenen, für diverse Themen wurden Gremien beschlossen. Daher wird zum Beispiel eine Renten-Kommission viele Seiten Papier betexten, obwohl doch überhaupt kein Erkenntnisproblem besteht. Die Standpunkte sind ausdiskutiert.

Schwarz-Rot müsste den Mut finden, aus den demografischen Tatsachen die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, also zum Beispiel das Renteneintrittsalter moderat und langfristig zu erhöhen. Doch nach Lage der Dinge wird die Koalition das nicht tun.

„Viel Arbeit“ lohnt sich nicht im Vergleich zu „ein bisschen Arbeit“

Und dann ist da noch das Bürgergeld, der Dauer-Aufreger schlechthin. Das System müsste samt anderer Leistungen wie Wohngeld und Kinderzuschlag vereinheitlicht und neu aufgesetzt werden. Dann ließe sich viel konsequenter der Gedanke umsetzen, dass jeder selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen hat, soweit irgend möglich. Denn derzeit hat zwar derjenige, der arbeitet, immer mehr als derjenige, der das nicht tut. Aber „viel Arbeit“ lohnt sich allzu oft nicht im Vergleich zu „ein bisschen Arbeit“. Also arbeiten die Menschen nur ein paar Stunden und stocken auf. Den Schaden hat die Allgemeinheit.  

Das Nachdenken über Reformen beim Sozialen ist immer nur ein Teil der Wahrheit. Es braucht auch mehr Härte gegen Steuerhinterziehung. Außerdem werden Vermögende und Menschen, die reich erben, vom deutschen Steuersystem in einer Art und Weise geschont, die unanständig ist.

Es ist an der Union, hier ihre Verweigerungshaltung aufzugeben. So wie es an der SPD ist, nicht immer nur mehr Geld für die Sozialsysteme organisieren zu wollen. Ein Herbst der Reformen kann nur gelingen, wenn beide Seiten bereit sind, die eigenen Glaubenssätze einem Realitätscheck zu unterziehen. Davon ist leider bisher viel zu wenig zu erkennen.

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