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Migranten blicken auf die französische Küstenwache, die sich dem humanitären Schiff Ocean Viking nähert, das mit 230 aus dem Mittelmeer geretteten Migranten auf dem Weg nach Frankreich ist. Frankreich wird die Migranten in Toulon an Land gehen lassen. 

© Foto: AP/dpaVincenzo Circosta

Seenotrettung: Der ewige Krieg der Worte und Lügen

Es ist alles gesagt zum Thema Seenotrettung. Schön wär’s, wenn die EU-Länder endlich - vernünftig - handelten, statt sich verbal zu bekriegen.

Eine Kolumne von Andrea Dernbach

Wer die Debatte um die Aufnahme Geflüchteter in der EU auch nur ein paar Jahre verfolgt hat, kommt nicht umhin, sich in der Endlosschleife immer desselben Films zu sehen. Die Haltung aller europäischen Länder heißt: Abwehr.

Die der Mittelmeeranrainer lautet: Und wir sind am schlimmsten betroffen, nehmt uns die Leute ab! Zu alledem ein Wettlauf darum, wer am härtesten und unmenschlichsten - und, so meint man, damit am effektivsten - die Verzweifelten abwehrt, die nach Europa drängen.

Und nun der Kampf um Häfen für die Schiffe von Ärzte ohne Grenzen, „SOS Humanity“ und der Dresdner Organisation „Mission Lifeline“. Neu war in diesem Armdrücken zwischen Italien, Frankreich und Deutschland eigentlich nur, dass hinter dem Vorhang von Falschbehauptungen der beteiligten Regierungen und verdrehten Fakten die Wirklichkeit noch ein bisschen schwerer zu erkennen ist.

Da wären zunächst die Zahlen: 90.000 Menschen habe man dieses Jahr schon aufgenommen, tönt es markig aus der Regierung in Rom - die darüber schweigt, dass für die allermeisten Italien tatsächlich nur der unmittelbar erste sichere Hafen ist. Sie ziehen, sobald und soweit sie das können, weiter nach Norden, wo die Chancen auf einen Broterwerb sicher größer sind als in Italien, wo sehr oft nicht einmal die Einheimischen - gute - Arbeit finden. Von Stütze vom Staat ganz zu schweigen.

Frankreich schiebt nach Italien zurück, Deutschland saß aus

Der Norden, aktuell Frankreich, hält ebenso markig dagegen: Natürlich gebe es EU-Abmachungen, die Geretteten zu verteilen, aber an die werde man sich nur halten, solange auch Italien seiner Verpflichtung nachkomme, sie zunächst aufzunehmen. Kein Wort darüber, dass Frankreich die weitergewanderten Neuankömmlinge aus Italien routinemäßig zurückschiebt.

Oder dass Deutschland sich zwar im Malta-Abkommen zu Übernahmen verpflichtete, die es dann aber sozusagen auf dem Verwaltungswege aussaß: Da wurden viel weniger Übernahmen zugesagt als auf Malta versprochen, dann die wenigen auch noch „Sicherheitsprüfungen“ unterzogen, für die gelegentlich das Personal fehlte.

Die derzeit am wenigsten sichtbarste Wahrheit ist, dass Italiens Rechtsregierung, anders als ihre Law-and-order-Rhetorik behauptet, krachend verloren hat. Die neue Politikversuch von Innenminister Matteo Piantedosi sollte geschmeidiger wirken und vermutlich auch propagandistisch besser aussehen als die Hafenblockaden seines Ex-Chefs und Gönners Matteo Salvini:

Lieblingsrolle: Harter Hund

Wir lassen die Schwachen und Kranken an Bord ja ins Land, wer will uns einen Vorwurf machen? Am Ende gingen doch alle an Land, auch die „Restladung“, wie Piantedosi die Schiffbrüchigen tatsächlich genannt hatte. Angeblich hatten das die Ärzte entschieden, die sie untersuchten. „Bizarr“ sei deren Entscheidung, befand Regierungschefin Meloni.

1000
Etwa tausend Menschen sterben nach UN-Informationen Jahr für Jahr beim Versuch, übers Mittelmeer zu fliehen, oder gelten als vermisst. Das ist aber eine sehr vorsichtige Durchschnittszahl, die auch nur die bekannten Toten und Vermissten berücksichtigt. Im vergangenen Jahr etwa kamen 3.231 Menschen im Mittelmeer zu Tode.

Wahrscheinlicher ist, dass in Rom jemand eingesehen hatte - Meloni? -, dass auch dieser Versuch völkerrechtswidrig war und nun ihr selbst Ohrfeigen des italienischen Verfassungsgerichts eintragen könnte. Ihr Koalitionspartner Salvini steht deswegen sogar vor Gericht. Schiffbrüchige müssen alle an Land, es gibt bei einer Seenotrettung keine nicht Schutzbedürftigen, die man wieder aufs Meer zurückschicken darf.

trotzdem geht der Krieg der Worte weiter, nun in Brüssel, wo Italien das Thema am Montag auf die Tagesordnung des Außenministertreffens setzen ließ, und Ende des Monats bei einem Termin der Chefinnen und Chefs der Innenressorts. Und Matteo Salvini kann sich auf dieser Bühne weiter als harter Hund gerieren - seine Lieblingsrolle und im übrigen auch seine einzige.

Das Wesentliche ist kein Thema: Die Toten im Mittelmeer

Seit dem Regierungswechsel sind in Deutschland wenigstens Ansätze einer Politik vernünftigen, weil aufnahmewilligen Migrationspolitik zu erkennen. Wann wird sich in einem ausreichend großen Teil Europas die Erkenntnis durchsetzen, dass Migrationsabwehr ein Kampf gegen Windmühlenflügel ist?

Dass sie Kräfte und Geld bindet, die für Integrations-, Arbeitsmarkt-, Bildungspolitik gescheiter eingesetzt wäre, die das Potenzial der Altsassen wie der Eingewanderten nutzt? Dass der Wettlauf darum, wer die härteste Abwehrpolitik macht, der extremen Rechten hilft statt sie zu neutralisieren - siehe Frankreich?

Und dass die einzig wesentliche Zahl im Krieg der Worte und Ziffern eine andere ist: tausend. Nein Tausende sind es tatsächlich, die Jahr für Jahr auf der Flucht übers Mittelmeer ums Leben kommen. Die, die schon auf dem Weg zum Meer sterben, sind dabei noch nicht berücksichtigt.

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