Von Malte Lehming: Töricht, aus gutem Grund
Hinter dem geplanten Gefangenenaustausch in Nahost steckt viel Moral
Stand:
Lohnt das? Ein entführter, als Geisel gehaltener junger Soldat soll gegen hunderte palästinensische Gefangene ausgetauscht werden, die zum Teil wegen der Beteiligung an Terroranschlägen zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren? Sollen auf diese Weise Menschen in Freiheit gelangen, die nicht nur Blut an den Händen haben, sondern, wie die israelische Tageszeitung „Jediot Achronot“ schreibt, „bis zu beiden Ohren im Blut stecken“? Wenn sich die anschwellenden Gerüchte bewahrheiten, wird es bald dazu kommen, unter deutscher Vermittlung.
Am Schicksal von Gilad Schalit, der vor mehr als drei Jahren als 19-Jähriger von Hamas-Aktivisten in den Gazastreifen verschleppt worden war, hat jeder Israeli Anteil genommen. Kein Preis scheint für dessen Freilassung zu hoch. Dennoch wirkt der Deal wagemutig, ja halsbrecherisch. Darum schlagen die emotionalen Wogen in Israel immer höher, je näher der Tag der Entscheidung rückt. Vertreter des rechten Spektrums geißeln die geplante Freilassung von Palästinensern gar als eine „Botschaft der Hoffnung für Mörder“.
In der Tat ist der Preis hoch: Hunderte von Mördern und Verbrechern können demnächst wieder ihrem barbarischen Handwerk nachgehen; die radikalislamische Hamas wird die Freilassung der Inhaftierten als Sieg feiern – und als Siegerin über Israel in weiten Teilen der islamisch-arabischen Welt gefeiert werden; ebenfalls lacht sich die Hamas-Schutzmacht Iran ins Fäustchen; denn der Deal zeigt: Geiselnahme wird belohnt, durch Terror und Erpressung können die Prinzipien von Sühne und Gewaltprävention außer Kraft gesetzt werden; mit der Hamas musste Israel daher, wenn auch indirekt, verhandeln; die Fatah um Palästinenserpräsident Mahmud Abbas wird weiter geschwächt.
Das alles, wie gesagt, für einen einzigen Menschen. Wer Staaten auf Interessen und Politiker auf Taktiker reduziert, kann das kaum verstehen. Nur wer sieht, dass im Nahen Osten auch Moral und Religion eine handlungsbestimmende, weil identitätsstiftende Rolle spielen, begreift die Aktion in ihrer humanitären Größe. Nach jüdischem Recht hat die Pflicht zur Rettung eines Lebens Vorrang vor anderen Geboten und Erwägungen. Das Prinzip heißt „Pikuach Nefesch“, Rettung aus Lebensgefahr. Dafür muss alles – mit wenigen Ausnahmen wie Götzendienst oder Mord – unternommen werden. „Pikuach Nefesch“ steht auch über den Schabbatgesetzen.
Israel versteht sich selbst als jüdischer Staat. Seine politischen Maximen – keine Verhandlungen mit Terroristen, kein Nachgeben gegenüber Erpressern, keine vorzeitige Freilassung von Mördern – finden dort ihre Grenze, wo sie mit jüdischer Moral und jüdischem Recht kollidieren. Es gibt sogar Gelehrte, wie den ehemaligen sefardischen Oberrabbiner von Israel, Ovadia Josef, die sich auf „Pikuach Nefesch“ berufen, um im Falle eines dauerhaften Friedens die Aufgabe von Gebieten zu rechtfertigen, die unter jüdischer Souveränität stehen. „Vielleicht verlangt das jüdische Gesetz das sogar von uns.“ Land für Frieden also.
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