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Deutschland und Israel: Unser Bekenntnis zu Israels Politik ist uneinlösbar
Angela Merkel hat Israels Sicherheit zur deutschen Staatsräson erklärt. Doch keine deutsche Regierung könnte sich im Ernstfall an einem Krieg beteiligen, meint unser Kolumnist.
Nein, mit seinem Gedicht über Israel und den Iran hat Günter Grass sich und uns keinen Gefallen getan. Sich nicht, weil das Ganze formal misslungen ist – und uns nicht, weil die Debatte nun wieder in die falsche Richtung läuft: Was ist Antisemitismus und wie viel Israel-Kritik ist in Deutschland nach Auschwitz erlaubt und moralisch verkraftbar? Dabei hat er in ein Wespennest voller Heuchelei und Maulheldentum gestochen, das keineswegs nur dem iranischen Staatspräsidenten eigen ist.
Unsere Bundeskanzlerin hat die Sicherheit und Existenz Israels zur deutschen Staatsräson erklärt und damit noch einmal bekräftigt, was vor ihr schon Brandt und Fischer so oder ähnlich erklärt haben. Doch schon im Jom-Kippur-Krieg von 1973 lautete die deutsche Staatsräson am Ende: Neutralität. Weder kann noch will Deutschland den Israelis militärisch zu Hilfe kommen, sollte eine neue Runde arabisch-israelischer Auseinandersetzungen beginnen. Man stelle sich nur einmal vor, was so unwahrscheinlich nicht ist, Israel bombardiere unter Inanspruchnahme des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts die iranischen Atomanlagen und geriete in dem sich anschließenden Krieg in Existenznot. Keine deutsche Regierung wird sich in diesem Fall aktiv auf die Seite Israels stellen. Sollte sie es dennoch tun, dürfte sie von einem Sturm der Entrüstung hinweggefegt werden, gegen den die Demonstrationen anlässlich der Nachrüstung im Bonner Hofgarten ein lindes Lüftchen waren.
Die Eliten der alten Bundesrepublik wie des wiedervereinigten Deutschland sind gegenüber Israel verbal Verpflichtungen eingegangen, die sie nie erfüllen können und im Ernst wohl nicht einmal erfüllen wollen. Sollte Israels Existenz bedroht sein, sind allein die USA fähig und willens, das militärische Gleichgewicht im Nahen Osten wiederherzustellen. Es war immer eine Mischung aus moralischer Anmaßung und sentimentaler Unverbindlichkeit, Auschwitz zur Staatsräson der alten Bundesrepublik zu erklären. Abgesehen davon, dass man die höchste Stufe des Kulturbruchs nicht in das Fundament eines Staates einfügen kann, schon gar nicht im Nachhinein und ohne ausdrückliche Zustimmung des Staatsvolkes, waren die daran geknüpften außenpolitischen Ansprüche immer uneinlösbare Versprechungen.
Denn da wir die Politik des souveränen Staates Israel weder bestimmen wollen noch können, ist eben auch ein Widerspruch deutscher zu israelischer Staatsräson vorstellbar, wodurch alle Unverbrüchlichkeitserklärungen an ihre Grenzen stoßen. So sind eben nicht nur die israelische Besatzungs- und Besiedlungspolitik, sondern auch der unkontrollierte höchstwahrscheinliche Atomwaffenbesitz Reibungsflächen, die immer von Neuem unterschiedliche Beurteilungen und Bewertungen hervorbringen, ja sogar zu ganz unvereinbaren Standpunkten führen können.
Ob Günter Grass mit allem, was er dichtend zu Papier brachte, so völlig falsch lag, dürfte sich erst in der Stunde des Konfliktes erweisen, den niemand wünschen sollte. Dann heißt es für Regierung, Eliten und Öffentlichkeit: Hic Rhodos, hic salta – hier ist Rhodos, hier springe. Erst dann wird sich die Belastungsfähigkeit der ungezählten Feiertagsbekenntnisse in der politischen Realität erweisen. Das Lager der vielen Kritiker von Grass dürfte dann kleiner, das der wenigen Unterstützer erheblich größer sein. Doch selbst der Dichter der „Blechtrommel“ dürfte diesen Wahrheitsbeweis scheuen.