Meinung: Unsere lieben Tabus
50 Jahre Europa lehren: Außenpolitik muss manchmal gegen Stimmungen immun sein
Stand:
Es ist nur zu eurem Besten: Das müssen sich Kinder oft anhören, wenn ihre Stimmung nicht mit dem übereinstimmt, was ihre Eltern von ihnen fordern. Der Satz könnte aber auch als Motto über der deutschen Nachkriegsgeschichte stehen. Wesentliche, das Gemeinwesen prägende Entscheidungen sind gegen eine Mehrheitsstimmung getroffen worden. Westbindung, Wiederbewaffnung, Ostpolitik, Nachrüstung: Die großen deutschen Kanzler – von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis Helmut Schmidt – haben in historischen Momenten auf die Vernunft und die Stimme ihres Gewissens gehört, nicht auf Umfragen. Das Wohl des Landes war ihnen wichtiger als die eigene Popularität.
Am heutigen Donnerstag debattiert der Bundestag über Europa. Anlass ist der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. Auch die Europäische Einigung wurde nicht in erster Linie vom deutschen Volk vorangetrieben, sondern von deutschen Politikern. Der letzte bedeutende in dieser Reihe war Helmut Kohl. Ohne seinen Einsatz, der sich auf tief verwurzelte Prinzipien gründete, hätte es vielleicht weder die Osterweiterung noch den Euro gegeben. Beide Projekte liefen der Stimmung im Land zuwider.
So lässt sich, zum 50. Geburtstag Europas, erleichtert seufzen: Wie gut, dass wir nicht basisdemokratisch regiert werden, sondern repräsentativ! Wie gut, dass wir die Stimmungen des Volkes nicht mit seinem Willen verwechseln müssen! Denn das eine drückt sich in wechselhaften demoskopischen Daten aus, das andere in Wahlergebnissen aus denen ein Mandat resultiert. Das erlaubt unseren Politikern einen heilsamen Verzicht. Sie müssen nicht jeder Versuchung zum Populismus erliegen.
Stets gab es unausgesprochene Tabus in der Politik, an denen nicht gerüttelt wurde. Aktuell etwa ist eine Mehrheit der Deutschen für aktive Sterbehilfe, für einen Schlussstrich unter die NS-Zeit-Debatte, für einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Na und? Zum Glück ignoriert die Regierung solche Befindlichkeiten, obwohl es leicht wäre, sie zu bedienen.
Doch leider weicht eines dieser traditionellen Tabus langsam auf – der Skrupel, aus antiamerikanischen Reflexen Kapital zu schlagen. Beispiel Raketenabwehr. Selbst Sozialdemokraten verhehlen nicht, dass ihre Einwände dagegen auch taktisch motiviert sind. Sie wissen, wie unbeliebt derzeit alles ist, was aus den USA kommt – und nutzen das weidlich aus.
Damit kein Missverständnis entsteht: Sich aus der blinden Gefolgschaft gegenüber Washington zu befreien, war richtig. Gerhard Schröder hat Deutschland mit seinem Nein zum Irakkrieg einen größeren Handlungsspielraum verschafft. Aber diese Leistung lässt sich nicht beliebig oft kopieren. Nicht jedes Nein an die Adresse der US-Regierung ist allein schon deshalb richtig, weil es ein Nein ist. Konsistente Außenpolitik muss sich ein Stück weit immunisieren gegen Populismen. Das lehren 50 Jahre Europa und die deutsche Nachkriegsgeschichte. Was gut sein mag für Kurt Beck, muss nicht das Beste sein fürs Land.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: