Von Christoph von Marschall: Von Bagdad nach Kabul
US-Abzug aus dem Irak: Der Verlauf des Krieges dient Obama als Folie für Afghanistan
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Der Streit um den Irakkrieg hat eine Bundestagswahl und eine US- Kongresswahl entschieden sowie Amerikas Präsidentschaftswahl enorm beeinflusst. Dieses Potenzial wird das Thema behalten, auch wenn Barack Obama gestern seine lange erwarteten Abzugspläne bekannt gab. Mit Blick auf die Lehren für Afghanistan können die Irakerfahrungen starke Wirkung auf die Bundestagswahl 2009 entfalten. Auch Obamas eigene Wiederwahlchancen 2012 sowie die Aussichten der US-Demokraten, bei der Kongresswahl 2010 die Mehrheit zu verteidigen, die sie 2006 dank des Irak errungen haben, entscheiden sich am Erfolg von Obamas Irakpolitik.
Der neue Präsident ist auch hier weniger revolutionär als versprochen. Er zieht keinen Schlussstrich unter Bushs Krieg. Er verfügt nicht den Komplettabzug, sondern nur den Rückzug der Kampftruppen. Amerikas Präsenz soll sich bis August 2010 von derzeit 140 000 Soldaten auf etwa 50 000 verringern – und auch das nur, wenn die Entwicklung im Land die Reduzierung ohne Gefahr für die Stabilität erlaubt. Zehntausende US-Soldaten werden noch viele Jahre im Irak sein, wie auch die Botschaft in Bagdad noch lange die größte der USA auf der Welt bleiben wird.
Wie passt das zu Obamas Versprechen, den Krieg zu beenden? Die Sicht der Amerikaner auf den Irak hat sich kontinuierlich verändert, von triumphaler Siegesgewissheit 2003 über das Empfinden einer Katastrophe, die sich ähnlich wie Vietnam entwickele, zwischen 2005 und 2007, bis zum Gefühl, dass die Niederlage vermeidbar sei. Spätestens seit Sommer 2008 herrscht die Sicht, dass Bushs unpopuläre Truppenverstärkung ein Erfolg war und die Lage sich stabilisiert. Irak ist kein lästiges Problem mehr, dem man sich durch Flucht entzieht. Wenn Amerika Geduld und Weitsicht behalte, könne man in Ehren abziehen. Es wird nicht der Triumph von Demokratie und Freiheit, den Bush versprochen hat, aber auch nicht der „Sumpf“ mit tausenden Toten, die vergebens gestorben sind, wie die Demokraten lange behauptet haben.
Diese Wendung der Interpretation übernimmt Obama. Denn er sucht den Rückhalt für den Krieg in Afghanistan, der sich aus US- Sicht ungefähr so katastrophal entwickelt wie Irak vor drei, vier Jahren. Auch Afghanistan kann sich zum Besseren wenden, wenn man es richtig angeht, heißt es nun. Das Rezept ist eine Mischung aus mehr Truppen, mehr Aufbauhilfe, um die Bevölkerung zu gewinnen, und dem Bemühen, regionale Führer und ihre Stämme aus der antiwestlichen Koalition herauszukaufen.
Angesichts der politischen Gemengelage in den USA und in Europa ist der Schwenk waghalsig. In Amerika sind viele Demokraten empört, die Republikaner applaudieren. Deutschland und Europa müssen entscheiden, ob sie Obamas Weg mitgehen wollen. Gelingen kann die Strategie nur gemeinsam. Ebenso sicher ist: Tut der Westen nicht mehr, wird er die Lage in Afghanistan nicht wenden.
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