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Was jetzt zu tun ist: Hohe Mieten bringen fast jeden Dritten in Existenznot
Hohe Metropolenmieten treiben viel mehr Menschen in die Armut als bekannt. Seit zehn Jahren verschleppen Bund und Länder das Problem. Was es jetzt braucht.

Stand:
Gier frisst Hirn und Wohnen Einkommen. Weil die Mieten in Deutschland steigen, ist fast jeder Dritte von Armut betroffen. Wer allein lebt, den trifft es noch öfter, und am häufigsten, wer dazu noch eine Rente bezieht. In einem der reichsten Länder der Welt verbreitet sich die Armut, weil ein dysfunktionaler Wohnungsmarkt immer größere Teile der Bevölkerung in die Wohnungsnot treibt. Und die Politiker in Bund und Ländern lassen es geschehen.
Weiteren Zündstoff in dieser Debatte liefert nun der Paritätische Wohlfahrtsverband. Dem Spitzenverband zufolge erfasst die offizielle Statistik nicht das wahre Ausmaß der „Wohnarmut“. Demnach ist von Amts wegen nur von Armut bedroht, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, ganz egal, wo er wohnt und wie viel Miete er zahlt. Tatsächlich aber bliebe Bewohnern von München oder anderen Ballungsgebieten nach Abzug der hohen Mieten dort oft nicht genug zur gesellschaftlichen Teilhabe und zum Leben – sie verarmen, obwohl sie in der offiziellen Armutsstatistik gar nicht auftauchen.
Die neu ausgerufene „Wohnarmut“ der Paritäter stößt auf Kritik bei Forschern von DIW, Ifo und anderen Instituten. Unstrittig ist unter den Experten bleibt das zugrundeliegende Problem: Wohnen zehrt immer größere Anteile des Einkommens von Menschen in Deutschland auf, die dort leben wollen oder müssen, wo es Jobs und Chancen gibt. Wer sich keine eigene Immobilie leisten kann, der muss die teuren Mieten bezahlen. Und weil in der Wirtschaftskrise die Löhne und Gehälter vielfach langsamer steigen als die Mieten, zahlen immer mehr Haushalte mehr als ein Drittel ihres Einkommens für das Wohnen. Und verarmen.
Einfache populistische Erklärungen verfangen
Das ist gefährlich. Weil es den sozialen Frieden gefährdet. Und weil es zum Erstarken der Populisten beiträgt. Immer mehr Menschen aus der Mittelschicht fürchten um ihren Wohlstand, angesichts der lahmenden Wirtschaft nicht einmal zu Unrecht. Deshalb verfangen in immer weiteren Kreisen einfache Erklärungen wie: Die „Anderen“ sind schuld, die „Fremden“, die Zugezogenen.
Das Perfide an diesem Kurzschluss ist, dass der Zuzug tatsächlich Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt bedeutet, auch wenn die Arbeitskräfte von Betrieben und öffentlichem Dienst, von Pflegesystem sowie von Sozial- und Rentenversicherungen so dringend benötigt werden. Die „Neuen“ konkurrieren mit Deutschen und Migranten der ersten Generationen um ein Angebot an Immobilien, das nicht angepasst wurde an die Anforderungen unserer Zeit.
Schuld daran ist nicht immer die Gier von Vermietern, denn die müssen auch gestiegene Kreditzinsen und Sanierungskosten bezahlen. Vielmehr ist das, was sich hier sozial und politisch rächt, die Ignoranz gegenüber einem Problem, das seit fast einem Jahrzehnt adressiert wird: Dass es zu wenig Wohnungen gibt, und dass das Angebot an kommunalen, betrieblichen, genossenschaftlichen und anderweitig preislich gedämpften oder gebundenen Wohnungen sinkt.
Infrastruktur und Wohnungsmarkt müssen fit gemacht werden
Schon in der Ära Merkel war die Wohnungsnot zur sozialen Frage unserer Zeit ausgerufen worden. Das Kanzleramt lud zu „Wohnungsbaugipfeln“ ein, in der Legislatur der großen Koalition und in den Ampel-Jahren. Trotzdem gelang es in dieser Zeit Bund und Ländern noch nicht einmal, den Rückgang beim Angebot sozial geförderter Wohnungen zu stoppen.
Trotz dieses eklatanten Versagens erklärt die amtierende Bundes-Nicht-Bauministerin, sie wolle ihr Amt in einer neuen Regierung behalten? Das befördert den Verdruss!
Vielmehr gilt es zu handeln. Deutschland muss die Aufgaben anpacken, die seit Jahrzehnten liegen geblieben sind. Die Modernisierung des Landes ist überfällig. Und nein, diesen hat die millionenfache Zuwanderung aus Syrien, aus der Ukraine und von andernorts nicht verursacht. Sie hat aber wohl den Blick verschärft für das, was liegengeblieben ist.
Deutschland muss die Aufgaben anpacken, die seit Jahrzehnten liegen geblieben sind. Die Modernisierung des Landes ist überfällig.
Ralf Schönball, Tagesspiegel-Redakteur
Wenn ein Land wächst, braucht es funktionierende Verkehrswege, effiziente Verwaltungen, ein leistungsfähiges Erziehungs- und Bildungssystem, Digitalisierung – und ausreichend Wohnungen. Wir brauchen eine Grundsanierung des Landes. Selbst wenn das Utopische möglich wäre und die Grenze dicht, die neue Regierung müsste trotzdem ein Investitionsprogramm auflegen, das die Infrastruktur und den Wohnungsmarkt fit macht für die neue Realität eines 84,5 Millionen Menschen großen Landes.
Dass der Paritätische in seinem Weckruf zur „Wohnarmut“ die Politiker des Bundestages dazu aufruft, der vom rot-grünen Bundesrumpfkabinett noch beschlossenen Mietpreisbremse zuzustimmen, war erwartbar. Nicht aber, dass die sozialen Träger mit deutlich mehr Verve den Bau von Wohnungen fordern.
Wir alle haben aus zehn Jahren Mietpreisbremse gelernt: Akute Not lässt sich nicht wegregulieren. Der Markt findet Schlupflöcher und Ausnahmen, in größter Not entsteht ein Schwarzmarkt. Wer den Mangel an der Wurzel packen will, muss Wohnraum schaffen. Durch Verdichtung, Umnutzung oder Neubau. Denn wer die soziale Frage unserer Zeit nicht angeht, arbeitet jenen zu, die unsere Probleme mit falschen Versprechen lösen wollen.
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