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80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: Es braucht einen neuen Anlauf, das „Nie wieder“ zu erklären
In dieser Zeit, 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, stehen wir vor der erneuten Aufgabe, die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten.
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Heute vor 80 Jahren, am 27. Januar 1945, erreichten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und befreiten die wenigen noch verbliebenen Insassen.
Mehr als eine Million Jüdinnen und Juden waren allein im Lagerkomplex Auschwitz vergast, erschossen, erschlagen, durch Zwangsarbeit vernichtet oder auf anderen Wegen getötet worden. Insgesamt wurden während der nationalsozialistischen Herrschaft mindestens sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet, darunter eine Million Kinder.
Wer die Ereignisse der Shoah, dem nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden, einmal an sich heranlässt, vergisst sie nie wieder. Ihre Monstrosität, die Verstand und Gefühl nicht fassen können. Wie die Heiligkeit jedes einzelnen Lebens, das unbedingte Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und auf Würde millionenfach vernichtet wurde.
Es geschah nicht, weil der moderne Staat abwesend gewesen wäre, sondern es geschah mit ihm und durch ihn, unter Einsatz der Technologien und der Infrastrukturen der europäischen Moderne. Es geschah nicht gegen die damalige deutsche Mehrheitsbevölkerung, sondern unter ihren Augen und mit dem Zutun vieler. Begonnen hatte es mit der völkisch-rassistischen Klassifizierung und Ausgrenzung von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, es endete mit der systematischen Vernichtung.
„Wir haben von den Dingen gewusst“, sagte Bundespräsident Theodor Heuss 1952 bei der Einweihung der Gedenkstätte in Bergen-Belsen. Er hatte diese Worte an sein Land gerichtet, das Land der Täter, und zugleich eine Botschaft an die Weltgemeinschaft gesendet.
Für viele Deutsche war Heuss’ Rede ein Skandal. Und noch die Rede von Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985, in der er, nach vierzig Jahren, das Kriegsende als „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ beschrieb, traf auf harsche Kritik aus Politik und Gesellschaft.
Heute, weitere vierzig Jahre später, blicken wir auf Jahrzehnte zurück, in denen viel für die Erinnerung getan wurde. Gedenkstätten, die den Terror sichtbar machen und an die Opfer erinnern. Wissenschaftlerinnen, Autoren und Filmemacher, die die historische Wahrheit ans Licht gebracht haben: das Leid der Opfer, die Schuld der Täter, die Entstehung einer totalitären Gesellschaft, die Mechanismen des Terrors und der Vernichtung. Schulen, in denen das Geschehene be- und verhandelt wird. Eine Gesellschaft, die sich mit der Terrorgeschichte des eigenen Landes konfrontiert hat.
Und doch stehen wir heute vor der erneuten Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalten, damit sie uns wachhält. Unter neuen Bedingungen. Mit neuen Herausforderungen. Wir leben in gleich mehrfacher Hinsicht in einer Übergangszeit.
Heute sind kaum noch Täter am Leben. Von den überlebenden Opfern können nur noch wenige Zeugnis ablegen. Mit wachsendem Generationenabstand ist die Erinnerung und auch das Entsetzen für viele Deutsche immer seltener mit den Nächsten verbunden: den Eltern, den Großeltern.
Ich habe mich mit ihrer Schuld auseinandergesetzt und mit meiner Großmutter darüber geredet.
Vizekanzler Robert Habeck über die Taten seines Großvaters und seines Urgroßvaters in der NS-Zeit.
So spielte für meine Generation die „Familiengeschichte“ der Verstrickung in den Nationalsozialismus noch eine wichtige Rolle. Mein Urgroßvater war ein als Kriegsverbrecher verurteilter SS-Brigadeführer und mein Großvater war Obersturmführer der SA. Ich habe mich mit ihrer Schuld auseinandergesetzt und mit meiner Großmutter darüber geredet.
Diese persönliche Auseinandersetzung hat mein politisches Denken, Handeln und Reden mitgeprägt und nimmt mich bis heute in die politische Pflicht. Aber ich bin 24 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, seitdem sind 55 Jahre vergangen. Für meine Kinder schon sind diese Großeltern erstmal nur Schwarz-Weiß-Fotos von vergangenen Generationen, für spätere Enkelkinder erst recht.
Darüber hinaus ist unser Land längst Heimat geworden für viele Millionen Menschen mit Migrationsgeschichte, die keinen biografischen Bezug zur deutschen Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit haben.
Die Geschichte wird immer häufiger verdreht
Und schließlich stehen wir nach einer Phase der ernsthaften gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit in einer Situation, in der die Geschichte geklittert und verdreht, Begriffe umgedeutet werden, und diese Verdrehung ohne Gegencheck und unwidersprochen ihre Kanäle zu Bürgern findet.
Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, wie wir unter diesen veränderten Bedingungen die Erinnerung wachhalten können? Wie können wir die Erinnerung und die Lehren daraus, wie sie in unserer Verfassung festgehalten sind, weiterhin als elementaren Bestandteil unserer nationalen Identität erhalten? Wie kann das Erinnern auch aus anderen Perspektiven heraus anschlussfähig sein?
Es braucht einen neuen Anlauf, die Notwendigkeit der Erinnerung zu begründen und das „Nie wieder“ zu erklären. Viele etablierte Institutionen der Erinnerungsarbeit haben sich in den vergangenen Jahren auf diesen Weg begeben. Und neue Initiativen entstehen.
Vor einigen Wochen traf ich in einem Jugendzentrum Erzieherinnen und Erzieher, die besondere Fahrten mit jungen Menschen zu Gedenkstätten organisieren: Mit Jugendlichen aus Deutschland, manche rechtsradikal, und Jugendlichen aus Flüchtlingsfamilien, geprägt durch antisemitische Vorurteile, die in ihren Herkunftsländern präsent sind. Und dann stehen sie in Dachau, Bergen-Belsen oder Auschwitz und können nicht mehr leugnen, dass es solche Verbrechen gab. Und sie kehren, manchmal, verändert zurück.
Für solche und ähnliche Initiativen, für die Kultur des Erinnerns und Wiedererinnerns braucht es auf absehbare Zeit eher mehr Ressourcen als weniger.

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Ich bin überzeugt: Wer sich mit dem Weg der Deutschen in den Nationalsozialismus beschäftigt und einen Blick auf die Folgen wirft, die Gesichter der Opfer sieht, das Echo ihrer Stimmen hört, der wird davon berührt und in die Pflicht genommen – als Mensch, der Menschen sieht. Nicht aufgrund eigener Schuld. Auch nicht aufgrund der eigenen Herkunft. Sondern aus einer Verantwortung, die in Anschauung der Shoah und ihrer Ursachen nicht zurückzuweisen ist.
Die tradierten Imperative – „Wehret den Anfängen“; „Nie wieder“ – sind im Kern universalistisch und taugen unbedingt und weiterhin als verbindendes Band für unsere vielfältige Republik.
Dieser Universalismus aus der konkreten historischen Wirklichkeit der Shoah kann den generationen- und herkunftsübergreifenden Ausgangspunkt für eine erneuerte Begründung der gemeinsamen Erinnerungspolitik in Deutschland bilden. Der Notwendigkeit, genau hinzuschauen und nicht zu vergessen. Unzulänglich wäre er dann, wenn er sich als blind für die konkrete politische Geschichte Deutschlands erwiese. Aus dieser Geschichte – und nicht etwa aus der Frage individueller oder familiärer Schuld – erwächst die anhaltende besondere Verantwortung unseres Landes.
Deshalb ist es wichtig, sich als Bürger gleich welchen Alters und welcher Herkunft, so konkret wie möglich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah, und mit der Rolle des Staates darin zu beschäftigen. Mit der Einzigartigkeit dieses Menschheitsverbrechens und mit den Mechanismen – den spezifischen der Nazi-Herrschaft und jenen, die auch anderen Gewaltregimen innewohnen.
Unser demokratisches Gemeinwesen braucht die Erinnerung an den Weg der Deutschen in den Zivilisationsbruch und es braucht das historische Wissen dazu. Als Lehre und Mahnung. Um immer neu den Blick für die eigene Zeit zu schärfen und zu öffnen. Als Verpflichtung gegenüber den Opfern, als Verpflichtung für die Zukunft. Für ein Leben in Würde und Freiheit, sicher und frei von Angst.
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