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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Berlin.

© picture alliance / Arco Images/Schoening

Asylanträge von Russen gestiegen: Diese sicherheitspolitischen Fragen muss sich Deutschland stellen

Vor allem junge russische Männer suchen Asyl. Sind es lediglich Kriegsdienstverweigerer oder eröffnet die Fluchtwelle Moskau eine Möglichkeit, Agenten einzuschleusen?

Allein innerhalb von drei Monaten sind so viele gekommen wie zuvor in einem ganzen Jahr: 2381 russische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger stellten zwischen Januar und März 2023 einen Asylerstantrag in Deutschland.

Das sind nur knapp 500 weniger als im kompletten vergangenen Jahr, als Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann und 2851 Russen in Deutschland Asyl suchten. Das ergeben Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf), die dem Tagesspiegel vorliegen. Zuerst berichtete das Newsportal „Table.Media“ über den Anstieg.

Dass innerhalb von nur drei Monaten fast ein Drittel mehr Russ:innen nach Deutschland geflohen sind, wirft in Anbetracht des russischen Angriffskrieges und der diplomatischen Verhärtungen zwischen westlichen Nato-Staaten und Russland sicherheitspolitische Fragen auf: Wie wird sich das gesellschaftliche Klima zwischen Russ:innen und den knapp 1,1 Millionen ukrainischen Geflüchteten in Deutschland entwickeln? Wer sind die russischen Staatsbürger:innen, die nach Deutschland kommen? Besteht die Möglichkeit, dass Russland die Einwanderung nutzt, um Mitarbeitende seiner Geheimdienste in Deutschland zu platzieren?

Ein Grund, weshalb immer mehr Russen in Deutschland Schutz suchen, hängt sicherlich mit fortlaufenden Mobilisierungen in der russischen Armee zusammen, von der vor allem junge und mittelalte Männer betroffen sind. Erst kürzlich verabschiedete die russische Staatsduma ein Gesetz, mithilfe dessen Einberufungen in die Armee erleichtert werden sollen und Ausreiseverbote drohen, wenn man sie ignoriert.

Dennoch ist zu erwarten, dass viele russische Männer die Flucht antreten werden. Kriegsdienstverweigerern versprach die Bundesregierung, dass sie in Deutschland Schutz suchen können. Allerdings belegen Beispiele, über die auch der Tagesspiegel berichtete, dass auch ihre Fälle eher restriktiv beschieden werden.

Hinweise darauf, dass besonders junge Männer dem Kriegsdienst entfliehen wollen, gibt eine Aufschlüsselung des Bamf, der zufolge von Januar bis März 2023 insgesamt 64 Prozent, also fast zwei Drittel, der antragstellenden Russen männlich waren. Rund ein Drittel war zwischen 19 und 30 Jahre alt. Im Jahr 2022 waren 59 Prozent männlich und 23 Prozent im Alter zwischen 19 und 30.

Doch nicht nur sie fliehen vor Putins Regime, wie der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz (Grüne) hervorhebt. „Wie bedrohlich die Lage für kritische Menschen und Oppositionelle in Russland derzeit ist, hat beispielsweise die jüngste Verurteilung von Kreml-Kritiker Waldimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Haft im Straflager erneut gezeigt. Deutschland muss als starkes Land innerhalb Europas seinen Anteil an der Aufnahme von russischen Oppositionellen, Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren leisten“, teilt von Notz dem Tagesspiegel mit.

Wie wahrscheinlich ist eine Einschleusung von Geheimdienstmitarbeitenden?

Doch was ist, wenn es sich bei den Geflüchteten nicht nur um Kriegsdienstverweigerer handelt, sondern russische Geheimdienste Ausreisewellen junger Männer geschickt nutzen, um Agenten nach Europa zu schicken und sie hier einzuschleusen? Der russische Geheimdienstexperte Andrej Soldatov sagte dem Tagesspiegel jüngst vor dem Hintergrund, dass in Deutschland und anderen EU-Staaten zuletzt zahlreiche Diplomaten ausgewiesen wurden: „Moskau sucht verzweifelt nach Ersatz – und natürlich bieten Flüchtlinge und im Exil lebende Russen die beste Möglichkeit.“

Das Bundesinnenministerium teilte dem Tagesspiegel in dieser Frage lediglich mit, dass „die Erteilung von Asyl eine Einzelfallentscheidung“ bleibe, „in deren Rahmen auch eine Sicherheitsüberprüfung sowie eine Prüfung des Vorliegens von Ausschlusstatbeständen (z.B. die Beteiligung an Kriegsverbrechen)“ stattfinde.

Von Notz fordert, dass die zuständigen Behörden für solche Fälle sensibilisiert werden müssen, um „entsprechende sicherheitspolitische Gefahren auch im Rahmen des Asylverfahrens soweit möglich auszuschließen“.

Generell müssten wir uns in Deutschland beim Thema Spionageabwehr „anders und besser aufstellen als bisher“, sagt von Notz. „Der russische Angriffskrieg führt uns seit über einem Jahr täglich vor Augen, wie dringend der Handlungsbedarf bei IT-Sicherheit, Desinformation und Spionage ist. Was es braucht, sind ganzheitliche Konzepte, um diesen Gefahren umfassend und konsequent zu begegnen.“

8 Prozent beträgt die Gesamtschutzquote bei russischen Asyantragstellenden

Doch die Gefahr dürfe auch nicht überschätzt werden, davor warnt der Russland-Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Stefan Meister. „Es kann auf jeden Fall nicht ausgeschlossen werden und es ist wahrscheinlich, dass die Aktivitäten russischer Geheimdienste in Deutschland in den letzten Jahren und mit dem Krieg zugenommen haben“, sagt Meister dem Tagesspiegel.

Gleichzeitig würden viele Geheimdienstaktivitäten über die russische Botschaft und andere russische Organisationen weiterlaufen. „Deshalb sehe ich nicht die Notwendigkeit, über Flüchtlinge in größerer Zahl Agenten einzuschleusen, auch wenn das sicher geschieht.“

Gleichzeitig seien die deutschen Behörden sehr restriktiv mit der Erstellung von Visa für Russen. Auch Asylanträge russischer Staatsbürger:innen werden nicht selten abgelehnt: Laut Bamf wurden von allen Asylanträgen zwischen Januar und März 2023 – darunter fallen Erstanträge sowie Folgeanträge – erst 1155 beschieden. Und von diesen 1155 Anträgen haben lediglich acht Prozent der Antragstellenden Schutz bekommen. Die Gründe für eine Ablehnung werden statistisch nicht erfasst.

Obwohl viele nicht bleiben dürfen, befinden sie sich nun erst einmal in Deutschland, zusammen mit über einer Million ukrainischer Geflüchteter – Bewohner des Täter- und Opferlandes wohnen in denselben Städten, ihre Kinder gehen möglicherweise auf dieselbe Schule. Sind da Konfrontationen vorprogrammiert?

Russland-Experte Stefan Meister verweist darauf, dass die Zahl der russischen Asylsuchenden im Vergleich zu jener der ukrainischen Geflüchteten relativ gering ist. „Auch wenn die Bundesregierung sagt, dass Kriegsdienstverweigerern Asyl gewährt wird, sehen wir, dass die deutsche Auslandsvertretung sehr restriktiv ist, und ich sehe keine Masseneinwanderung.“

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