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Politik: „Auch Polen muss zu Solidarität bereit sein“

Der Chef des Europaparlaments, Hans-Gert Pöttering, über Warschaus Politik, Rauchverbote und Klimawandel

Stand:

Herr Pöttering, wer das Europaparlament in Brüssel besucht, dem fallen die abgetrennten Raucherzimmer auf. Rauchen in der Cafeteria ist im Europaparlament tabu. Tut es dem Parlamentspräsidenten Pöttering leid, dass die Raucher ein gesondertes Dasein fristen müssen?

Ich habe da eine vermittelnde und – so denke ich – auch menschliche Haltung. Bei einer meiner ersten Entscheidungen als Präsident des Europaparlaments ging es um die Frage, ob wir das totale Rauchverbot im Europaparlament aufrechterhalten oder eine andere Lösung finden. Das totale Rauchverbot führte dazu, dass man sich nicht daran hielt. Jetzt gilt: Im Prinzip wird im Europaparlament nicht geraucht, aber es gibt bestimmte Orte, wo man rauchen kann. Als Nichtraucher sage ich: Dies müssen wir den Rauchern zugestehen.

Eine so tolerante Sicht der Dinge scheint EU-Gesundheitskommissar Markos Kyprianou nicht zu haben. Jedenfalls weist er beharrlich darauf hin, dass Länder wie Irland und Italien mit ihren strikten Rauchverboten auch für Deutschland als Vorbild dienen sollten.

Ich bin gegen jede Form der Diktatur, auch der Erziehungsdiktatur. Ich habe Herrn Kyprianou einmal gesagt, dass er den Erfolg seiner Amtszeit nicht daran messen soll, ob er immer neue Vorschriften erlässt – sondern auch daran, ob er Vorschriften zurücknimmt.

Beim Klimaschutz kommt die EU allerdings nicht mehr um konkrete Vorschriften herum. Sie haben sich vor dem letzten EU-Gipfel für weitreichende Klimaschutzziele starkgemacht. Wie bewerten Sie das Ergebnis des Gipfels – als großen Erfolg oder nur als einen kleinen Schritt?

Die EU-Ratspräsidentschaft, insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel, und die Kommission haben die Frage des Klimawandels mit Vorrang auf die europäische Tagesordnung gebracht. Das Europaparlament tut das schon seit langem. Das Parlament geht in seinen Forderungen zur Reduzierung der Treibhausgase etwas weiter als die Staats- und Regierungschefs sowie die Kommission. Im Prinzip liegen aber die drei europäischen Institutionen beim Klimaschutz auf einer Linie. Jetzt geht es aber darum, das Interesse für den Klimaschutz aufrechtzuerhalten. Das heißt: Wenn das Europaparlament im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens auch über die Beschlüsse des Gipfels abzustimmen hat, dürfen wir nicht hinter das zurückfallen, was die Staats- und Regierungschefs beschlossen haben.

In Brüssel hat man sich unter anderem darauf geeinigt, dass die Treibhausgase bis 2020 um 30 Prozent unter das Niveau von 1990 gedrückt werden sollen – was die EU durchaus auch schaffen könnte. Dieses Ziel soll aber nur gelten, wenn beispielsweise auch die USA und China mitziehen. Ist das nicht ein merkwürdiges Kompromissangebot?

Die EU ist nicht für den Großteil der weltweit erzeugten Schadstoffe verantwortlich. Auch andere müssen sich beteiligen – deshalb muss es jetzt einen weltweiten Prozess der Meinungsbildung geben. Ich wünsche der Bundeskanzlerin viel Erfolg bei den Beratungen auf dem G-8-Gipfel im Juni in Heiligendamm. Hier muss sie vor allem die USA für den Klimaschutz gewinnen – worauf Angela Merkel aber auch ein besonderes Augenmerk legt.

Taugt die Atomkraft zum Klimaschutz?

In der Europäischen Union besteht Einigkeit in folgendem Punkt: Die Mitgliedstaaten entscheiden selbst darüber, welche Formen der Energieerzeugung sie wählen. Wenn man den Versuch unternehmen würde, sich EU-weit für oder gegen die Kernenergie auszusprechen, würde man Europa handlungsunfähig machen. Man würde nämlich zu keinem Ergebnis kommen. Meine persönliche Meinung ist: Angesichts des dramatisch hohen Ausstoßes von Treibhausgasen muss die Kernenergie weiterhin für eine überschaubare Zeit eine Rolle spielen.

Mit Ihnen steht jetzt ein CDU-Politiker an der Spitze des Europaparlaments. Tauschen Sie sich eigentlich regelmäßig mit dem SPD-Mann Klaus Hänsch aus, der von 1994 bis 1997 Präsident des Europaparlaments war?

Klaus Hänsch und ich standen seit 1979, seit der ersten Direktwahl zum Europaparlament, in den politischen Grundfragen immer auf der gleichen Seite. Als wir Mitte der Achtzigerjahre forderten, auch Themen der Außen- und Sicherheitspolitik im Europaparlament zu behandeln, haben uns viele belächelt. Heute ist das anders; es wird verlangt, dass die EU in diesen Fragen stärker sein sollte.

Nun werden im Europaparlament aber nicht nur die großen Themen der Europapolitik diskutiert, sondern auch viele äußert technische Fragen. Bürgernähe kommt da nicht unbedingt auf.

Wir brauchen beides – Grundsatzdebatten und die Erörterung technischer Fragen. Das Europaparlament ist Gesetzgeber. Wenn Sie Fragen der Harmonisierung im EU-Binnenmarkt behandeln müssen, dann muss das auch im Parlament entschieden werden. Allerdings sieht unsere Geschäftsordnung auch vor, dass bereits die Fachausschüsse endgültige Entscheidungen treffen können. Davon sollte man in Detailfragen häufiger Gebrauch machen.

Die Berliner SPD-Europaabgeordnete Dagmar Roth-Behrendt leitet eine Arbeitsgruppe, die bis Juni 2008 Vorschläge zur Reform der Parlamentsarbeit vorlegen soll. Was halten Sie etwa von dem Vorschlag, spontanere Debatten im Europaparlament nach dem Vorbild des britischen Unterhauses zu ermöglichen?

Ich bin offen für diesen Vorschlag, aber man sollte zunächst Erfahrungen sammeln. Als ich noch Fraktionsvorsitzender der Europäischen Christdemokraten im Europaparlament war, habe ich im vergangenen Herbst einem Vorschlag zugestimmt, probeweise einmal im Monat in Brüssel eine solche spontane Debatte abzuhalten. Aber bevor man Plenarsitzungen im Wochenrhythmus nach diesem Muster abhält, sollte man erst einmal experimentieren.

Kommen wir zur EU-Verfassung, deren Zukunft nach der Ablehnung in Frankreich und in den Niederlanden ungewiss ist. Sie möchten, dass die Substanz des Verfassungsvertrages erhalten bleibt. Was ist die Substanz?

Der vorliegende Entwurf des EU-Verfassungsvertrages ist ja von allen 27 Regierungen in der Europäischen Union unterschrieben worden. Man kann nicht so tun, als ob dieses Projekt nicht auf dem Tisch läge. Die Substanz der EU-Verfassung liegt in den ersten beiden Teilen des Vertrages, in denen die Ziele, Werte und Zuständigkeiten der EU-Organe beschrieben werden. Dazu gehört auch die Grundrechte-Charta. Es ist meine tiefste Überzeugung, dass die EU nur dann eine Zukunft hat, wenn sie sich auf Werte gründet, die die Europäerinnen und Europäer miteinander verbinden. Man muss diese Grundrechte-Charta aber nicht unbedingt in eine Neufassung des Vertrages mit aufnehmen, sondern kann auch in einer kürzeren Fassung darauf verweisen. Schließlich gibt es noch den dritten Teil des EU–Verfassungsvertrages. Dieser Teil ist zu drei Vierteln eine Beschreibung des gegenwärtigen EU-Rechts – auch hier müssen nicht alle Bestimmungen in eine Neufassung des Vertrages mit aufgenommen werden. Kurz gesagt: Es müssen die vorgesehenen Reformen und der Teil der EU-Verfassung verwirklicht werden, in dem es um die Werte in der Europäischen Union geht.

Sie haben während des letzten EU-Gipfels auch länger mit dem polnischen Präsidenten Lech Kaczynski gesprochen. Polen gilt in der EU derzeit als Quertreiber. Welchen Eindruck hatten Sie nach dem Gespräch?

Das 45-minütige Gespräch mit dem polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski diente dem Kennenlernen. In diesem Sinn war es auch ein positives Gespräch: Man beginnt, sich über wichtige europapolitische Fragen auszutauschen. So wie eine Reise immer mit einem ersten Schritt beginnt, so muss man auch mit denjenigen, die nicht unsere Meinung teilen, das Gespräch suchen.

Befürchten Sie, dass die polnische Regierung noch einmal neu über die EU-Abstimmungsregeln verhandeln will, wie sie im EU-Verfassungsvertrag festgelegt sind?

Mein Rat an Polen ist, nicht auf den bisherigen Entscheidungsmechanismen des sogenannten Nizza-Vertrages zu beharren. Die Grundlage für europäisches Handeln ist die Solidarität. Ich stehe absolut an der Seite der Polen, wenn sie in der Frage der Energieversorgung die Solidarität der anderen Europäer einfordern. Polen bekommt diese Solidarität aber nur, wenn eine Haltung des Vertrauens und des gegenseitigen Verständnisses existiert – und da helfen Entscheidungsverfahren nicht weiter. Das im Verfassungsvertrag festgelegte Verfahren zu den Entscheidungsmechanismen ist fair und demokratisch. Nach diesem Prinzip der „doppelten Mehrheit“ sollen Beschlüsse künftig dann in Kraft treten, wenn 55 Prozent der Mitgliedstaaten mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung zustimmen. Dagegen kann man sich eigentlich nicht wenden. Wenn Polen Solidarität einfordert, dann muss es aber auch bereit sein, Solidarität zu zeigen. Denn Warschau würde sich gegen alle anderen 26 EU-Staaten stellen, wenn es auf den bisherigen Abstimmungsregeln in der EU nach dem Nizza-Vertrag beharren würde.

Am kommenden Sonntag werden die Staats- und Regierungschefs eine „Berliner Erklärung“ über die Zukunft Europas verabschieden, die auch dem Verfassungsprozess neuen Schwung geben soll. Wird in der Erklärung auch von der EU-Verfassung die Rede sein?

Die „Berliner Erklärung“ soll nicht die Verfassungsfrage lösen. Das ist vielmehr ein stufenweiser Prozess. Der Fahrplan soll dabei Ende Juni bei einem EU-Gipfel in Brüssel vorgelegt werden. Die „Berliner Erklärung“ kann dabei eine wichtige politische und psychologische Vorbereitung sein. Dort muss aber nicht der Begriff der „Verfassung“ stehen. In der Erklärung sollten sich aber die Staats- und Regierungschefs, die Kommission und das Europaparlament zu den notwendigen EU-Reformen verpflichten. In der Erklärung sollten auch die Werte wie die Menschenwürde und der Freiheitswille der Menschen – man denke an die Überwindung der Diktaturen in Griechenland, Spanien und Portugal und den Fall des Eisernen Vorhangs – zum Ausdruck kommen. Wichtig ist auch, was in der EU bisher erreicht wurde. Dazu gehören der Binnenmarkt und der Euro. Die Erklärung sollte sich aber vor allem den zukünftigen Herausforderungen zuwenden, die wir in der Europäischen Union nur gemeinsam bewältigen können, das heißt Globalisierung, Klimawandel, Energiesicherheit, Terrorismus, Kriminalitätsbekämpfung sowie der Dialog der Kulturen und Fragen der Immigration.

Das Gespräch führten Albrecht Meier und Gerd Appenzeller.

ZUR PERSON

DER MENSCH

Hans-Gert Pöttering wurde am 15. September 1945 im niedersächsischen Bersenbrück geboren. Mit seinen beiden inzwischen erwachsenen Söhnen fährt er seit vielen Jahren Ski in Zermatt.

NIEDERSACHSE

Der bekennende Katholik begann seine politische Karriere in der CDU als europapolitischer Sprecher der Jungen Union Niedersachsen. Seit 1999 ist er Mitglied im Präsidium und im Bundesvorstand der CDU.

EUROPÄER

Er ist einer der wenigen Abgeordneten, die dem Europaparlament ununterbrochen seit der ersten Direktwahl 1979 angehören. Bevor er im vergangenen Januar zum Parlamentspräsidenten gewählt wurde, führte er sieben Jahre lang die größte Fraktion im Europaparlament, die Christdemokraten. Die Wahl des CDU-Mannes Pöttering zum Parlamentschef ging auf eine Absprache mit den Sozialdemokraten zurück, die zuvor den Posten zweieinhalb Jahre lang besetzt hatten.

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