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Rechte Demonstranten und Polizisten in Chemnitz.

© Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa

Ausschreitungen und geleakter Haftbefehl: Wie es jetzt in Chemnitz weitergeht

Im Internet ist ein Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Messerstecher von Chemnitz aufgetaucht, der Stadt stehen neue Demos bevor. Was ist zu erwarten?

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Sachsen kommt nicht zur Ruhe. Nach den ausländerfeindlichen Übergriffen und Ausschreitungen in Chemnitz, die die dortige Polizei sichtbar überfordert hatten, droht den sächsischen Sicherheitsbehörden nun der nächste Skandal.

Was ist passiert?

Am Dienstag um um kurz vor 21 Uhr veröffentlichte das rechtsradikale Bündnis „Pro Chemnitz“ auf Facebook einen Haftbefehl – erlassen gegen den Iraker, der als Hauptverdächtiger der Messer-Attacke gegen den 35-jährigen Daniel H. gilt. Dessen Tötung war der Anlass für die Ausschreitungen in Chemnitz gewesen. „Anscheinend aus der Polizei oder Justiz heraus“ sei der Haftbefehl durchgestochen wurden, sagt der stellvertretende sächsische Ministerpräsident Martin Dulig (SPD). Die Opposition in Sachsen spricht von einem „deutlichen Leck bei den Sicherheitsbehörden“ in Sachsen.

Das zweiseitige Dokument enthielt in dieser ersten Version nur wenige Schwärzungen – zumindest die Namen der Zeugen waren nicht zu lesen.

Das Bündnis „Pro Chemnitz“, das den Haftbefehl als erstes veröffentlichte, war auch Anmelder des Rechten-Aufmarsch am Montagabend in Chemnitz gewesen. Im Chemnitzer Stadtparlament wird es angeführt vom Rechtsanwalt Martin Kohlmann, einem früheren Politiker der „Republikaner“. Er war auch Strafverteidiger von einem der Angeklagten der rechtsterroristischen „Gruppe Freital“. In dem Verfahren hatte er das Oberlandesgericht Dresden mit dem NS-Volksgerichtshof verglichen.

Wer hat den Haftbefehl verbreitet?

Das Dokument machte schnell die Runde in rechten Kreisen: Es wurde auf Facebook und Twitter verbreitet und auf verschiedenen Internetseiten von AfD-Politikern wie dem Berliner Abgeordneten Ronald Gläser und dem bayerischen Bundestagsabgeordneten Stephan Protschka veröffentlicht: Letzterer verbreitete den Haftbefehl sogar ohne Schwärzungen. Auch Pegida-Anführer Lutz Bachmann veröffentlichte das Dokument, ebenso das rechte Portal „JouWatch“. und die erzgebirgische Anti-Asyl-Initiative „Heimattreue Niederdorf“, die früher schon mit dem Verkauf des geschnitzten „Merkel-Galgens“ Aufsehen erregt hatte.

Was sind die Folgen?

Die Behörden in Sachsen ermitteln in zwei Richtungen – einmal wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen. Formal „gegen Unbekannt“, aber selbstverständlich müssen sie dabei auch Polizei und Justiz in den Blick nehmen. Ob der Informant der Rechtsradikalen identifiziert wird, ist fraglich. Torsten Scheller, der sächsische Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnte vor voreiligen Vermutungen. „Viele kommen dafür in Frage“, sagte er. Vergleichsweise leicht wird es sein, eine Liste derjenigen zu erstellen, die den Haftbefehl – die Staatsanwaltschaft Dresden geht von der Echtheit des veröffentlichten Dokuments aus –veröffentlicht haben. Ihnen droht eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mindestens eine Geldstrafe.

Welche Schlüsse zieht die Polizei aus den vergangenen Tagen?

Der sächsische GdP-Mann Scheller kritisiert den Stellenabbau bei der sächsischen Polizei in den vergangenen Jahren. „Es bräuchte in Sachsen etwa 16000 Polizeibeschäftigte“, sagt er. Zwar sei in Sachsen ein Stellenaufwuchs bei der Polizei geplant, aber bis 2024 nur auf etwa 14000 Beschäftigte. „Das ist viel zu wenig, hier muss dringend nachgebessert werden.“ Für die Eskalation in Chemnitz sei der Personalmangel aber nicht ursächlich.

Die „Neue Osnarbrücker Zeitung“ berichtete, dass das niedersächsische Innenministerium am Montag sogar Unterstützung angeboten habe, die aus Sachsen aber abgelehnt worden sei.

Das Innenministerium von Sachsen-Anhalt betonte, die Ereignisse in Chemnitz hätten „das Erfordernis schneller Mobilisierung von Einsatzeinheiten, auch länderübergreifend, deutlich gemacht“. Die Teilnehmer der Demonstration in Chemnitz seien mithilfe moderner Medien unwahrscheinlich schnell mobilisiert worden. Auf diese Entwicklung müssten die Sicherheitsbehörden reagieren.

Wie geht die AfD mit den Vorgängen in Chemnitz um?

Die AfD heizt die Stimmung in den sozialen Netzwerken an und verbreitet dort ihre Sicht auf die Vorgänge. Sie sieht in den Demonstrationen, an denen gewaltbereite Hooligans und Neonazis aus ganz Deutschland teilnahmen, einen verständlichen Bürgerprotest. Die Partei legt das Augenmerk auf den Mord an Daniel H., für den sie die Migrationspolitik der Bundesregierung mitverantwortlich macht. Kurz nach der gewalttätigen Eskalation hatte der Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier in einem Tweet indirekt zu Selbstjustiz aufgerufen: „Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach!“ Zwar hatten sich mehrere Fraktionskollegen von ihm distanziert, aber den Protest halten in der AfD viele für legitim. Manche scheinen sich sogar einen Umsturz zu wünschen. Besonders deutlich wurde das an einem Facebook-Post der AfD-Fraktion im Hochtaunuskreis. Dort hieß es: „Bei uns bekannten Revolutionen wurden irgendwann die Funkhäuser sowie die Presseverlage gestürmt und Mitarbeiter auf die Straße gezerrt. Darüber sollten die Medienvertreter hierzulande einmal nachdenken, denn wenn die Stimmung endgültig kippt, ist es zu spät.“

Wie geht es in Chemnitz weiter?

Auch in den kommenden Tagen wird es in Chemnitz nicht ruhiger. Für Donnerstag meldete „Pro Chemnitz“ nach Angaben der Stadt eine Kundgebung mit mehreren hundert Teilnehmern an. Die Polizei bereitet sich vor. „Die Planungen laufen noch“, sagte ein Polizeisprecher. Für Samstag rufen die AfD und die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung zu einem sogenannten Schweigemarsch auf. Damit solle „um die Toten und Opfer der illegalen Migrationspolitik“ in Deutschland getrauert werden, hieß es in einem gemeinsamen Aufruf der AfD-Vorsitzenden von Sachsen, Thüringen und Brandenburg – Jörg Urban, Björn Höcke und Andreas Kalbitz. Damit üben AfD und Pegida ein Jahr vor den Landtagswahlen in den drei Ländern einmal mehr den Schulterschluss. Auch der Österreicher Martin Sellner, der Anführer der vom Verfassungsschutz beobachteten „Identitären Bewegung“ im deutschsprachigen Raum, kündigte sein Kommen an.

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