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Bidens Rückzug in letzter Minute: Er könnte noch mehr historische Größe zeigen – und das Weiße Haus schon jetzt übergeben
Joe Biden hat die Notbremse gezogen und seinen Verzicht auf die Kandidatur erklärt. Er hat viel erreicht und wird als einer der großen US-Präsidenten in die Geschichte eingehen.

Stand:
Zusehends bitter, ja würdelos verliefen die letzten Tage für Joe Biden. Am Ende verfiel der Präsident, getrieben und offenbar mürbe geworden, geradezu in Hektik. Aus der Corona-Isolation heraus, aus seinem Ferienhaus in Rehoboth, an der Küste seines heimatlichen Bundesstaates Delaware, zog Biden am Sonntagnachmittag die Notbremse.
Er wird nicht mehr als Kandidat der Demokratischen Partei für die Präsidentschaftswahl am 5. November zur Verfügung stehen.
Mit seinem Rückzug von der Präsidentschaftskandidatur zieht Biden sehr spät, aber nicht zu spät die Konsequenz aus seiner sich verschlechternden körperlichen und geistigen Konstitution. Was mit seinem katastrophalen Auftritt im Fernsehduell gegen Donald Trump Ende Juni für alle sichtbar geworden ist, führte vernunftbegabte Demokraten in den vergangenen Wochen dazu, Bidens erneute Kandidatur für das höchste Staatsamt infrage zu stellen.
Mancher redete offenbar auf Biden ein, darunter die beiden demokratischen Fraktionschefs von Repräsentantenhaus und Senat, außerdem Ex-Präsident Barack Obama und die machterprobte Nancy Pelosi. Einige Abgeordnete besaßen sogar den Mut, öffentlich Bidens Rückzug zu verlangen.
Das war durchaus gewagt, gerierten sich doch viele Spitzenpolitiker in Opportunismus, während Biden bis Sonntag geneigt schien, halsstarrig an dem Projekt Weißes Haus 2025 bis 2029 (!) festzuhalten.
Biden hätte wohl kaum noch einmal zu alter Form gefunden
Es ist gut, dass Biden zu einer besseren Einsicht gekommen ist – zumal er doch damit eigentlich nur Wort hält, nachdem er 2020 ausdrücklich als ein Mann des Übergangs angetreten war. Hätte er nun an der Kandidatur festgehalten, wäre das Nahrung für den politischen Gegner gewesen, für das zusehends plausiblere Narrativ der Republikaner, wonach Biden gar nicht selbst regiere, sondern eine Gruppe von Schattengestalten hinter ihm.
Auf dem republikanischen Parteitag heizte Donald Trump junior damit schon der Menge ein. Ob Biden, der im November 82 Jahre alt wird, noch einmal zu alter Form gefunden hätte? Wohl kaum.
Was aber bleibt von Biden? Mit einer extrem ehrgeizigen Agenda hatte er seine Präsidentschaftskandidatur 2020 betrieben. Die „Seele der Nation“ wolle er heilen, versprach Biden, gab sich als überparteilicher Versöhner. Dass die Seele der USA nunmehr geheilt sei, würde wohl nicht einmal Biden, selten um Selbstlob verlegen, behaupten. Hier hatte er, amerikanisch-optimistisch unerfüllbare Erwartungen geweckt.
Joe Biden hat in weniger als einer Amtszeit mehr erreicht, als andere Präsidenten in acht Jahren.
Daniel Friedrich Sturm
Auch viele andere konkrete Defizite, etwa die Migrationskrise an der Südgrenze, die steigende private und staatliche Verschuldung hat Biden mitnichten gelöst.
Und doch wird Joseph „Joe“ Robinette Biden, geboren 1941 in Scranton/Pennsylvania, als einer der großen Präsidenten in die Geschichte eingehen. Biden hat in weniger als einer Amtszeit – er ist gewählt bis Januar 2025 – mehr erreicht, als andere Präsidenten in acht Jahren.
Er erzielte massive Erfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik
Wirtschafts- und sozialpolitisch sind Biden massive Erfolge gelungen. Seine Industrie- und Infrastrukturpolitik europäisch-sozialdemokratischen Stils ist so wirkungsvoll, dass europäische Sozialdemokraten dagegen wettern. Mit Blick auf Infrastruktur und Klimaschutz gehen die USA unter Biden, das war höchste Zeit, ambitionierte neue Wege.
„Amerika ist zurück“, hatte Biden bei Amtsantritt der Welt und den westlichen Partnern zugerufen. Den Rückzug aus Afghanistan, ein Projekt, an dem Obama und Trump gescheitert waren, hat Biden ziemlich rücksichtslos und zeitweise chaotisch durchgesetzt. Am Ende war es ein weiser Kraftakt.
Außenpolitisch hat Biden seine Versprechen zweifellos gehalten. Ohne die USA hätte die Ukraine den von Russland vom Zaun gebrochenen Krieg wohl längst verloren. Dass der Westen, darunter Deutschland, die außenpolitische Atempause unter Biden nicht genutzt hat, ist kein Versäumnis des Mannes im Weißen Haus.
Indem Biden nun nicht abermals antreten wird, erweist er seinem Land und seiner Partei einen Dienst. Will er noch mehr historische Größe zeigen, übergibt er das Weiße Haus schon in den kommenden Tagen derjenigen Person, die für die Demokraten das schwere Rennen gegen Donald Trump bestehen will.
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