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Kurze Pause in Marseille: Ein Crewmitglied der "Ocean Viking", des Schiffs von SOS Mediterranee, nutzt die Zeit zum Streichen.

© Shahzad Abdul/AFP

Update

Bilanz von SOS Mediterranee: Im Mittelmeer gehen "Menschenrechte über Bord"

Beim Versuch, Geflüchtete fernzuhalten, verletzt die EU systematisch eigene Regeln und Völkerrecht. SOS Mediterranee dokumentiert die letzten fünf Jahre.

Europa verstößt seit Jahren im Mittelmeer gegen Völkerrecht, gegen internationale Verträge, die die Gemeinschaft oder ihre Mitglieder unterschrieben haben, und gegen seine eigenen Vorschriften. Zu diesem Schluss kommt die Münsteraner Völkerrechtsprofessorin Nora Markard in einer Bewertung der Seenotrettung im Mittelmeer seit dem Sommer der Migration 2015. Markard sprach während der öffentlichen Präsentation einer Dokumentation der Hilfsorganisation SOS Mediterranee über die ersten fünf Jahre ihres Bestehens, die am Dienstag unter dem Titel "Völkerrecht über Bord" erschien.

Markard nannte unter anderem die Verletzung der UN-Seerechtskonvention von 1980, der SAR-Konvention über die Einrichtung von Zuständigkeitszonen der Meeresanrainerländern. Auch EU-Regelungen wie die Frontex- und die Seeaußengrenzen-Verordnung würden nicht eingehalten. Dort sei die Pflicht verankert, Notfälle zu melden, einzugreifen und Gerettete aufzunehmen.

EU "leistet Beihilfe zur Menschenrechtsverletzung"

Markard, die Spezialistin für Flüchtlingsrechte und internationalen Menschenrechtsschutz ist, nannte als Wendepunkt vor allem die Aufrüstung und EU-Finanzierung einer libyschen Küstenwache seit 2017. Deren Zuständigkeit für eine eigene "Such- und Rettungszone" (SAR) vor der eigenen Küste erkannte im Sommer darauf die UN-Seeschiffahrtsorganisation IMO an. Die Libyer seien dafür aber gar nicht gerüstet: "Es genügt nicht, eine SAR-Zone zu erklären, man muss dort auch effektive Rettungsdienste vorhalten", so Markard. So schreibe es die Konvention vor.

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Das aber ist der Dokumentation von SOS Med zufolge nicht der Fall: Allein seit Mitte 2019 waren bei 29 Einsätzen von deren Rettungsschiff Ocean Viking, so heißt es dort, "die zuständigen libyschen Behörden bei 231 Kontaktversuchen nicht erreichbar." Sehr oft werde an den diensthabenden Stellen auch kein Englisch gesprochen oder auf Notrufe erklärt, man habe für Rettungsaktionen keine Kapazitäten. "Die EU nutzt Libyen, um das zu tun, was sie nicht selbst tun darf", sagte Markard, nämlich Menschenrecht auf See nicht zu schützen.

Da Geflüchtete in Libyen, wohin die Truppe sie zurückbringt, schwersten Misshandlungen ausgesetzt und oft in die Länder zurückgeschoben würden, wo sie verfolgt wurden, mache sich EU-Europa der Beihilfe zur Menschenrechtsverletzung schuldig. Der Versuch, eigene Pflichten an Libyen auszulagern, ändere für Europa aber rechtlich nichts: "Die Verpflichtungen bestehen fort." 2011 stellte dies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, vor dem überlebende Flüchtlinge einer Rückschiebeaktion gegen Italien geklagt hatten.

Entwicklungshilfe für die Flüchtlingsabwehr

Neuerdings sieht Markard die juristischen Möglichkeiten, diese Rechtsbrüche zu ahnden, allerdings schwinden. Der Menschenrechtsgerichtshof urteile in letzter Zeit "nicht mehr so positiv, da scheint sich das Gewicht etwas zu verschieben." Inzwischen liefen aber andere Verfahren, so sei der Europäische Rechnungshof eingeschaltet, weil die Ausrüstung der libyschen Küstenwache - bisher "90 Millionen Euro europäisches Steuergeld", so die Geschäftsführerin von SOS Med Deutschland, Verena Papke - aus dem EU-"Fund for Africa" bestritten werde. Der ist aber für Entwicklungshilfe vorgesehen.

Angesichts des Versuchs der europäischen Regierungen, den direkten Kontakt mit Geflüchteten zu vermeiden, halte sie es "für eine ganz zielführende Strategie", wenn jetzt auch Klagen in Sachen Flüchtlingspolitik das Geld in den Blick nähmen, sagte Markard: "Ich bin sehr gespannt."

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SOS Mediterranee wirft der EU vor, sie habe sich "gezielt politischen Raum geschaffen für Menschenrechtsverletzungen", so Laura Gorriahn, die Vorstandsvorsitzende der deutschen Sektion. Von Deutschland, das am 1. Juli für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, fordert die NGO deren Ende, sowohl "direkt wie indirekt". Stattdessen müsse die EU eine eigene Rettungstruppe aufbauen, dies in die demnächst zu reformierende Gemeinsame Asylpolitik aufnehmen und "zivile Seenotrettung ohne jede Einschränkung" wieder zulassen.

Ein Jahr nach der Haft für Carola Rackete: NGOs weiter in Not

2017 hatten EU-Mittelmeeranrainerländer begonnen, deren Arbeit durch Auflagen zu erschweren, später Schiffe beschlagnahmt, auf deren Ausflaggung gedrängt und teure Gerichtsprozesse gegen Schiffscrews angestrengt. Zeitweise waren nur ein bis zwei Schiffe unterwegs. Aktuell hat SOS Mediterranee nach eigenen Angaben "keine Probleme". Für andere haben sie, auch ein Jahr nach der Festnahme der Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete in Italien, nicht aufgehört.

Nora Markard verwies auf die Sperrung von Häfen für NGO-Schiffe wegen angeblicher Corona-Gefahr - was die Weltgesundheitsorganisation für nicht nötig hält - oder die Auflagen etwa für die "Alan Kurdi", die kürzlich unter Verweis auf technische Unzulänglichkeiten nicht auslaufen durfte. "Die massive Behinderung privater Seenotrettung", so Markard, "setzt sich deutlich fort."

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