
© Imago/Mike Schmidt
Böllerverbot „irgendwie komisch“?: Wie der Bund mit den Silvesterexzessen umgeht, ist respektlos!
Jedes Jahr aufs Neue führen Silvesterexzesse zu Tod und Verstümmelung. Ein generelles Böllerverbot aber kommt für große Teile der Bundes- und Landespolitik nicht infrage. Es ist unerträglich.

Stand:
Kinder schwer verletzt, Menschen aus dem Leben gerissen, zerstörte Augen, zerfetzte Hände, zerrissene Trommelfelle, für immer gezeichnete und verstümmelte Menschen – teils selbst verschuldet, teils fremdverschuldet: Immer wieder ist das die traurige Bilanz nach der Jahreswende. Längst ist die Silvestertradition in Deutschland vollkommen aus dem Ruder gelaufen.
Es ist traurig genug, dass Tod und Verstümmelung in kriegsgeplagten Ländern Alltag ist. Hier aber lässt die Bundespolitik einmal im Jahr sogar ritualisiert zu, dass verantwortungslos handelnde Menschen, fast immer Männer und unter Alkoholeinfluss, mit Sprengkörpern hantieren können. Egal, wer hierzulande regiert. Wie absurd ist das, bitte?
In Umfragen sprach sich bereits im vergangenen Jahr eine klare Mehrheit dafür aus, privates Feuerwerk bundesweit zu verbieten. Nach den neuerlichen Silvesterexzessen übergaben die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin und Dutzende weitere Organisation am Montag zudem eine Petition und einen offenen Brief für ein bundesweites Böllerverbot mit rund zwei Millionen Stimmen an das Bundesinnenministerium.
Das Entsetzen über die alljährlichen Silvesterexzesse in diesem Land ist spürbar groß. Trotzdem lehnen große Teile der Bundes- und Landespolitik ein generelles Böllerverbot ab, ducken sich regelrecht weg. Da werden harte Strafen für die Täter gefordert, da werden noch mehr Einsatzkräfte aufgeboten, da werden einzelne Zonen reguliert. Aber all das ist doch lächerlich angesichts der Halbstarken, die – ausgestattet mit massenhaft Pyrotechnik – durch die Städte und Dörfer ziehen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zeigt sich zwar offen dafür, den Ländern mehr Handlungsspielräume für lokale Verbotszonen zu geben, ganz verbieten will sie privates Feuerwerk aber nicht. Denn, so ihre Argumentation, gefährlich sei es vor allem in einzelnen Stadtteilen, während es gerade in ländlichen Gebieten sicherer zugehe.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) spricht sich zwar für „ordentliche Regeln“ aus, findet ein Böllerverbot aber „irgendwie komisch“. Union und FDP wollen von einem generellen Böllerverbot ebenso wenig etwas wissen wie die Mehrheit der Bundesländer.
Einsatzkräfte werden unverhältnismäßig in Gefahr gebracht
Jedes Jahr ist es das Gleiche. Einige Tage lang Debatte, ein paar Forderungen hier, ein paar Relativierungen dort. Und das war’s. Begreifen die politischen Handlungsträger eigentlich, wie abgestumpft und feige sie in dieser Frage reagieren?
Jedes Jahr werden Menschenleben für immer ausgelöscht, werden Menschen ihrer Liebsten beraubt, werden Menschen ihr Leben lang eingeschränkt, werden Menschen für immer traumatisiert. Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr werden unverhältnismäßig in Gefahr gebracht, medizinisches Personal wird unter zusätzlichen Stress gesetzt.
Und zwar absehbar, geradezu einkalkuliert. Das ist respektlos. Es ist Kernaufgabe der Bundespolitik, die innere Sicherheit so gut es geht zu gewährleisten. Und indem sie den Verkauf von Feuerwerk zulässt, versagt sie jedes Jahr aufs Neue darin.
Natürlich: Weder ein generelles Böllerverbot noch schärfere Grenzkontrollen, um dem Import illegalen Sprengstoffs aus Polen oder Tschechien entgegenzuwirken, werden komplett verhindern können, dass sich einige Unbelehrbare Pyrotechnik besorgen. Dennoch würden beide Maßnahmen sicher helfen, die Anzahl der Opfer zu verringern.
Silvester 2020 und 2021 etwa galt pandemiebedingt ein Verkaufsverbot für Feuerwerk. In der Silvesternacht 2020/2021 wurden in den Krankenhäusern zwei Drittel weniger Feuerwerks-Schwerstverletzte auf den Stationen gezählt, wie der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, damals sagte. Auch die Notaufnahmen seien spürbar entlastet gewesen.
Es stimmt ja, alles, was über kleinere Raketen, Böller und Batteriefeuerwerk hinausgeht, ist auch jetzt schon verboten. Und ja, die große Mehrheit geht verantwortungsvoll mit Feuerwerk um. Für einige sind die bestehende Rechtslage und die entartete Silvestertradition dennoch immer wieder ein Freifahrtschein, um ihre Kriegs- und Gewaltfantasien auszuleben. Zu Lasten der riesigen Mehrheit.
Ein Freiheitsmissbrauch
Wer darin Freiheit sieht, führt den Begriff ad absurdum. Denn beim Böllern geht es nicht nur um die Freiheit, sich selbst zu schaden. Hier steht die Freiheit der anderen auf dem Spiel – und zwar der großen Mehrheit. Und wer die Freiheit der anderen so massiv einschränkt, missbraucht seine Freiheit.
Viele Stadtmenschen suchen jedes Jahr aufs Neue das Reißaus und lassen sich irgendwo isoliert auf dem Land nieder. Die Tierwelt muss das Geböllere ebenso jedes Jahr aufs Neue voller Angst ertragen. Und auch die miese Luftqualität nehmen wir jedes Jahr aufs Neue in Kauf. Von den Folgeschäden – Erkrankungen, Tote – die dadurch entstehen, redet so gut wie niemand.
Wieder und wieder schaden wir mit unseren Silvestertraditionen der Umwelt. All das ist unzählige Male vorgetragen worden. Und trotzdem: Ein paar Tage nach Silvester ist die Debatte in der Regel vorüber. Alles bleibt so, wie es ist.
Am Ende ist es nur ein Beispiel von vielen, warum viele Menschen von der Politik in diesem Land gefrustet sind und das Gefühl dominiert, kaum etwas verändern zu können.
Das Wort Armutszeugnis fällt oft leichtfällig, hier ist es absolut angebracht. Natürlich tragen in erster Linie jene die Schuld, die mit Sprengstoff willentlich oder fahrlässig andere in Gefahr bringen. Aber die politischen Handlungsträger ermöglichen dieses Ausmaß erst, indem der Böllerverkauf Jahr für Jahr erlaubt bleibt. Es ist unredlich, diese Zustände nicht mit den schärfsten Waffen des Gesetzes zu bekämpfen, so wie es andere Länder auch tun. Es ist längst überfällig, dass die Politik endlich mehr gegen diesen bodenlosen Freiheitsmissbrauch tut - und für mehr innere Sicherheit zur Jahreswende sorgt!
Die allermeisten Menschen werden dafür dankbar sein. Ganz sicher selbst so manche von jenen, die das Geböllere derzeit noch verteidigen. Es ist mühselig, jedes Jahr die Schreckensmeldungen zu lesen und diese Debatte zu führen, wo es um die Jahreswende doch eigentlich um etwas anderes gehen sollte: Nämlich, eine gute Zeit mit vor allem den Menschen zu haben, die einem am Herzen liegen.
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