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Ein Bild, das Putin braucht: Pro-russische Aktivisten feiern in der von Separatisten kontrollierten ukrainischen Stadt Donetsk die Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung.

© Alexander Ermochenko, Reuters

Brzezinski-Buch von 1997 erklärt Putins Vorgehen: „Ohne die Ukraine ist Russland keine Großmacht“

Vor 25 Jahren beschrieb der US-Politikberater Zbigniew Brzezinski die Bedeutung der Ukraine für Russland. Sein Buch liest sich nun wie eine Prophezeiung.

Diese Zeilen sind ein Vierteljahrhundert alt, doch sie lesen sich wie von heute. „Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war.“ – „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ – „Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch.“

Geschrieben wurden die Sätze von Zbigniew Brzezinski, dem ehemaligen Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter. Brzezinskis Familie, die zum polnischen Adel gehört, stammt aus der heutigen Ukraine, der Stadt Brzezany, daher der Name.

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Er selbst war in den USA einer der profiliertesten Außen- und Sicherheitspolitiker. Im Jahr 1997 veröffentlichte er das Buch „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ („The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives", die deutsche Ausgabe erschien mit einem Vorwort von Hans-Dietrich Genscher 2001 im S. Fischer Verlag).

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Aus zwei Gründen ist die Lektüre angesichts der gegenwärtigen Krise erhellend. Sie enthüllt, erstens, die Sichtweise eines einflussreichen amerikanischen Politikwissenschaftlers auf die geopolitische Rolle der USA nach dem Zusammenbruch des Kommunismus.

Sie gibt, zweitens, einen Einblick in die russische Perspektive, weil in Moskau Brzezinskis Buch als Beleg für ein Dominanzstreben der USA in Richtung Weltherrschaft interpretiert wurde. Die Osterweiterung der Nato und die westliche Ukraine-Politik gelten als Bestätigung dieser Interpretation.

Geleitet von der Vision einer besseren Welt

Ziel seines Buches, schreibt Brzezinski in der Einleitung, sei es, „im Hinblick auf Eurasien eine umfassende und in sich geschlossene Geostrategie zu entwerfen“. Hauptakteur sind die Vereinigten Staaten, die in den Bereichen Militär, Wirtschaft, Technologie und Kultur die „einzige globale Supermacht“ seien. Als solche müssten sie ihre Vorherrschaft auf dem „großen Schachbrett“ Eurasien sichern, um langfristig eine neue Weltordnung zu ermöglichen, geleitet von der Vision einer besseren Welt.

Eurasien erstreckt sich, laut Brzezinski, von Lissabon bis Wladiwostok. „Eurasien ist der größte Kontinent der Erde und geopolitisch axial. Eine Macht, die Eurasien beherrscht, würde über zwei der drei höchstentwickelten und wirtschaftlich produktivsten Regionen reichen. (…) Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem Boden wie auch seinen Unternehmen steckt der größte Teil des materiellen Wachstums der Welt. (…) Als Ganzes genommen stellt das Machtpotenzial dieses Kontinents das der USA weit in den Schatten.“

Amerikas Vorrangstellung in Eurasien sieht Brzezinski bedroht, falls sich die Staaten der ehemaligen Sowjetunion zusammenschließen und dem Westen eine Abfuhr erteilen. Deshalb müsse das Aufkommen einer „dominierenden, gegnerischen Macht“ unbedingt verhindert werden.

"Bannerträger einer gemeinsamen panslawistischen Identität"

Ein zentrales Mittel dazu sei die Osterweiterung der Nato. Sollte diese scheitern, würde die „amerikanische Führungsrolle deskreditiert, der Plan eines expandierenden Europa zunichte gemacht, die Mitteleuropäer würden demoralisiert und möglicherweise die gegenwärtig schlummernden oder verkümmernden geopolitischen Gelüste Russlands in Mitteleuropa neu entzündet“.

Dreh- und Angelpunkt sei die Entwicklung in der Ukraine. Sie sei „der kritische Punkt“. Nur mit der Ukraine könne Russland zu einem eurasischen Reich werden und seine beherrschende Position am Schwarzen Meer behaupten. Ohne die Ukraine seien die Russen gezwungen, ihre eigene politische und ethnische Identität zu überdenken, schreibt Brzezinski. Die Unabhängigkeit der Ukraine „stellte den russischen Anspruch, der von Gott auserkorene Bannerträger einer gemeinsamen panslawistischen Identität zu sein, geradezu im Kern in Frage“.

Weiter heißt es: „Zudem hatte der ungeschickte Umgang Russlands mit dem neuen ukrainischen Staat – seine mangelnde Bereitschaft, dessen Grenzen anzuerkennen, sein Bestreiten des ukrainischen Rechts auf die Krim, sein Beharren auf der ausschließlich exterritorialen Kontrolle über den Hafen von Sewastopol – dem neuerwachten ukrainischen Nationalismus eine unverkennbar antirussische Schärfe verliehen.“ Jetzt käme es darauf an, dass Russland die Unabhängigkeit der Ukraine, deren Grenzen und eigenständige Nationalität „ohne Wenn und Aber“ anerkennt und respektiert.

Kontakte zu ostdeutschen Dissidenten

Brzezinski war nie ein treuer Parteigänger, mal stand er den Demokraten in den USA nahe, mal den Republikanern. Er befürwortete die Entspannungspolitik nach der Kubakrise, unterhielt Kontakte zu ostdeutschen Dissidenten, unterstützte die Katholische Kirche gegen die kommunistische Herrschaft in Polen, betonte die Menschenrechte gegenüber der Sowjetunion, ordnete größere Reichweiten für „Radio Free Europe“ an.

Aus Sorge vor einem Wiedererstarken Russlands nach dem Fall des Eisernen Vorhangs plädierte Brzezinski früh für eine Nato-Osterweiterung, die ursprünglich auch die Ukraine einbezog. „Da die EU und die Nato sich nach Osten ausdehnen, wird die Ukraine schließlich vor der Wahl stehen, ob sie Teil einer dieser Organisationen werden möchte“, schreibt er in seinem Buch. „Es ist davon auszugehen, dass sie, um ihre Eigenständigkeit zu stärken, beiden beitreten möchte, wenn deren Einzugsbereich einmal an ihr Territorium grenzt und sie die für eine Mitgliedschaft notwendigen inneren Reformen durchgeführt hat.“

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Für Moskaus Einwände hatte Brzezinski ein gewisses Maß an Verständnis. „Wie man zugeben muss, waren nicht alle russischen Bedenken gegen eine Nato-Erweiterung aus der Luft gegriffen oder böswilliger Natur.“ Letztlich aber ließ Moskau ein „Gefühl kultureller Unterlegenheit“ die Nato-Erweiterung als Kulminationspunkt einer seit langem vom Westen betriebenen Politik der Isolierung Russlands erscheinen. „Nicht einmal die demokratischen Kreise Russlands begriffen, wie tief bei den Mitteleuropäern der Unmut über ein halbes Jahrhundert Moskauer Vorherrschaft saß und wie sehr sie Teil eines größeren euroatlantischen Systems werden wollten.“

Wladimir Putins „gangsterhafte Taktik“

Im Februar 2014, kurz vor dem Höhepunkt der Euromaidan-Revolution, sagte Brzezinski, ohne die Ukraine könne Russland nie wieder Supermacht werden. „Erst in diesem Kontext wird der erbitterte politische Kampf Russlands um die Ukraine verständlich.“ Kurze Zeit später, Anfang März 2014,  verglich Brzezinski in einem Gastkommentar für die „Washington Post“ Wladimir Putins „gangsterhafte Taktik“ und „kaum getarnte Invasion der Krim“ mit Adolf Hitlers Besetzung des Sudetenlandes 1938. Andererseits mahnte er den Westen, Russland gegenüber zu versichern, die Ukraine nicht in die Nato ziehen oder gegen Russland in Stellung bringen zu wollen.

Seit acht Jahren hält Russland die Krim besetzt und Teile der Ostukraine. Wer „Die einzige Weltmacht“ liest, wird kaum hoffen können, dass sich die Lage in absehbarer Zeit entspannt. Denn offenbar geht es um weit mehr als die Ukraine.

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