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Blick in den Plenarsaal des Bundestags im Reichstagsgebäude.

© Kay Nietfeld/dpa

Deutsches Wahlrecht: CDU und CSU versuchen, ihre Pfründen zu sichern

Die Opposition klagt vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Wahlgesetz der großen Koalition - zu Recht, sagt der Politikwissenschaftler Philipp Weinmann.

Philipp Weinmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität.

Als 2011 die schwarz-gelbe Koalition das Wahlrecht reformierte, bewertete der Wahlrechtsexperte Hans Meyer dieses als „das liederlichste Stück Wahlrecht, das ich je erlebt habe“. Er konnte nicht wissen, was noch kommen würde. Das 2020 von CDU/CSU und SPD beschlossene Wahlgesetz macht seinem Vorgänger in dieser Hinsicht ernsthafte Konkurrenz.

Sachverständige üben scharfe Kritik am Wahlgesetz der großen Koalition

So stieß das neue Gesetz, unter anderem von Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung, sofort auf massive Kritik. Doch dies hielt die Regierung nicht davon ab, das Gesetz, wie 2011, gegen den Widerstand der Opposition zu beschließen, woraufhin diese, ebenfalls wie 2011, jetzt Klage vor dem Bundesverfassungsgericht einreichte. Nimmt das Gericht seine eigenen Maßstäbe ernst, müsste es das aktuelle Wahlrecht wie das von 2011 aus mehreren Gründen für verfassungswidrig erklären.

Ohne Not werden unausgeglichene Überhangmandate wieder zugelassen

Erstens werden ohne Not wieder unausgeglichene Überhangmandate zugelassen, die dazu führen, dass CDU und CSU systematisch begünstigt werden. Wenngleich dieser Bonus auch „nur“ drei Mandate beträgt, können diese Mehrheiten entscheidend verändern. Ähnlich wie in den USA eine Person mit den zweitmeisten statt den meisten Wählerstimmen Präsidentschaftswahlen gewinnen kann, könnte die nächste Bundesregierung nur von einer Minderheit statt einer Mehrheit der im Bundestag repräsentierten Wähler:innen legitimiert werden. Wer könnte Parteien dann davon abhalten eine solche demokratisch nicht legitimierte Regierung zu bilden? Auch der angebliche Grund für Überhangmandate – eine Verringerung der Parlamentsgröße – überzeugt nicht, da die dadurch erreichte Einsparung sehr gering ausfällt.

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Die Wiedereinführung von unausgeglichenen Überhangmandaten hat zudem die politischen Konflikte um das Wahlrecht wieder eskaliert, wie die Klage zeigt. Es war daher politisch unklug, die 2013 zugeschütteten Gräben nun für einen Vorteil von drei Mandaten wieder aufzureißen. Zwar verfolgt auch die Opposition eigene Machtinteressen und profitiert ebenfalls von größeren Bundestagen. Aber FDP, Linke und Grüne haben einen Vorschlag vorgelegt, der den Bundestag nachweislich wesentlich stärker verkleinern würde, was demonstriert, dass sie zu stärkeren Einbußen bereit sind.

CDU und CSU haben seit 2013 versucht, Bonusmandate zurückzuerlangen

CDU und CSU hingegen haben seit 2013 versucht, die Bonusmandate zurückzuerlangen: zunächst in unbegrenzter Höhe (Vorschlag von Norbert Lammert 2016), dann zumindest 15 Mandate (Wolfgang Schäuble 2019), dann sieben Überhangmandate im 2020 präsentierten Entwurf. Nun drei Mandate.

Das Verfassungsgericht sollte diese unwürdigen Versuche, politische Pfründen zu sichern, endgültig beenden. Bereits das erste Überhangmandat kann die Mehrheiten für Koalitionen entscheidend verändern und erneut die rechtswidrigen Effekte hervorrufen, aufgrund derer der Reformmarathon 2008 überhaupt begann.

Das Gesetz ist schlampig gearbeitet und an vielen Stellen nicht eindeutig

Zweitens verletzt das neue Wahlrecht unnötig den Proporz zwischen den Landeslisten von Parteien. Das ist besonders befremdlich, da doch gerade CDU und CSU seit Jahren den Länderproporz besonders betonen und das Gesetz weitgehend aus ihrer Feder stammt. Wenn die Gesetzgebenden ihre Positionen damit auch in diesem Gesetz begründen, dann sollten sie sich zumindest selbst daran halten.

Drittens ist das Gesetz derart schlampig gearbeitet, dass mehrere zentrale Inhalte uneindeutig bleiben. So wie im Sport die Spielregeln vor einem Wettkampf zweifelsfrei feststehen müssen, gilt dies erst recht für die Spielregeln bei Wahlen. Das Gesetz liefert aber keine eindeutige Anweisung, wie viele Überhangmandate zulässig sein sollen, oder was passiert, wenn eine Person auf einem Überhangmandat ausscheidet. Wie die Oppositionsparteien bemängeln, kann ein mehrdeutiges Wahlrecht aber nicht verfassungsgemäß sein.

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Neben der absehbaren Rechtswidrigkeit sind auch die grundlegenden Probleme nicht gelöst. Starke Vergrößerungen des Bundestags sind weiter möglich. Zwar reduzieren zwei Maßnahmen des Gesetzes die Vergrößerungen: zum einen die Verrechnung von Überhang- mit Listenmandaten. Zum anderen – allerdings erst bei der übernächsten Wahl – die Reduzierung von 299 auf 280 Wahlkreise. Dass dies bei weitem nicht ausreicht, war allerdings durch wissenschaftliche Studien bekannt. Das Gesetz führt absurderweise nach jeder Wahl zu Vergrößerungen, auch dann, wenn keine Überhangmandate anfallen und es keiner Ausgleichsmandate bedarf.

Viele Parteien haben sich offenbar von der Regelgröße verabschiedet

Viele Parteien und Abgeordnete haben sich also offenbar längst vom Ziel verabschiedet, die Regelgröße von 598 wieder einhalten zu können. In den politischen Debatten war davon praktisch keine Rede mehr. Das entspricht aber einer Parlamentsvergrößerung durch die Hintertür, ohne Begründung und öffentliche Diskussion.

Nach sieben Jahren Vorbereitungszeit eine solch rechtswidrige, stümperhafte und unausgegorene Reform durchzusetzen, zeigt, wie verantwortungslos CDU/CSU und SPD mit dem Wahlrecht umgehen. Es deutet vieles darauf hin, dass in einer Art Salamitaktik von Wahl zu Wahl am Wahlrecht herumgedoktert wird, wenn der öffentliche Druck dies unausweichlich macht. Damit ist – wie 2011 – das Verfassungsgericht die letzte Rettung, um ein faires und verfassungsgemäßes Wahlsystem für die baldige Bundestagswahl zu gewährleisten.

Philipp Weinmann

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