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Solange Strom fließt, ist alles halb so schlimm. Kälteresistentes Arbeit am Computer.

© imago/photothek

Für wen muss Gas rationiert werden?: Da helfen nur Gemeinsinn und Solidarität

Die Bundesregierung nimmt ihre Zusage zurück, in der Gaskrise die Bürgerinnen und Bürger zu bevorzugen – zugunsten der Wirtschaft. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die bösen Überraschungen nehmen kein Ende. Wladimir Putins Krieg zerstört die Lebensbasis von Millionen Menschen, verstärkt die Fluchtbewegungen, führt zu drastischen Preiserhöhungen für Energie und andere Güter – und stürzt viele Deutsche in finanzielle Nöte. Droht ihnen nun auch ein Winter des Frierens und Zähneklapperns?

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Neu an der jüngsten Horrornachricht ist: Ihr Urheber ist die Bundesregierung. Sie nimmt eine Zusage zurück, die sie den Bürgern zu Beginn der von Putin fabrizierten Gaskrise gegeben hatte. Um die Menschen in der existenziellen Verunsicherung zu beruhigen, hatte sie versichert, die privaten Verbraucher hätten Priorität, wenn das Gas knapp werde.

Falls die Vorräte nicht reichen, habe die Industrie das Nachsehen. Wohnungen würden weiter geheizt. Und Krankenhäuser sowieso versorgt. So sei das in den Richtlinien für Notlagen vereinbart.

Das soll nun nicht mehr kategorisch gelten. Die bisherige Priorisierung sei für Ausnahmesituationen von wenigen Tagen Dauer gedacht, heißt es jetzt, nicht für eine lang anhaltende Versorgungskrise.

Wie es in Deutschland um Gemeinsinn und Solidarität jenseits von romantisierenden politischen Appellen bestellt ist, hat Corona gezeigt. Ob Klopapier oder knappe Impftermine, wenn es darauf ankommt ist sich jeder selbst der Nächste. 

schreibt NutzerIn maxost

Deshalb bewertet die Regierung neu, welche Folgen es hätte, wenn die vom Gas besonders abhängigen Branchen ihre Produktion reduzieren oder gar einstellen müssten – Folgen nicht nur für die Betriebe und die Jobs dort, sondern für die allgemeine Versorgung im Alltag, etwa mit Lebens- und Arzneimitteln, chemischen Produkten, Glas, Keramik, Druckerzeugnissen, Textilien. Und damit für alle Bürger.

Verständlicherweise reagieren viele erst einmal verärgert und empört. Kann man sich nicht einmal mehr auf Zusagen der Regierung verlassen? Sozialverbände protestieren: Das treffe die Schwächsten wieder am härtesten.

Gewissheiten geraten ins Wanken

Zugleich ist eine neue Nachdenklichkeit zu spüren. Der Krieg bringt Gewissheiten, auf die über viele Friedensjahrzehnte Verlass war, ins Wanken. In der neuen Wirklichkeit helfen die gewohnten Rituale der Verteilungskämpfe nicht weiter, in denen die Interessen von Wirtschaft und Gesellschaft, Bossen und Arbeitnehmern, Kindern und Rentnern als scharfe Gegensätze dargestellt und gegeneinander ausgespielt werden.

Sie alle, wir alle leben in gegenseitiger Abhängigkeit. Die Zumutungen lassen sich nur gemeinsam bestehen.

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Die Regierung ist bei der Gaszuteilung in einem Dilemma. Aber nicht nur sie. Wir alle sind es. Warme Wohnungen bei stillgelegter Industrie sind keine Antwort. Voller Betrieb bei kalten Wohnungen, Kitas und Altenheimen ebenso wenig.

Deshalb ist es gut, dass Robert Habeck den Vorstoß gemacht hat und nicht ein Wirtschaftsliberaler. Der Grüne ist nicht als Lobbyist von Industrieinteressen bekannt. Da hat die oft gescholtene Kommunikation der Ampel funktioniert.

Man möchte wünschen, dass es so weiter geht im öffentlichen Dialog. Und alle Betroffenen nach Habeckschem Muster nicht nur für die eigenen Interessen und Sichtweisen kämpfen, sondern auch Verständnis für die berechtigten Belange der Anderen zeigen. Denn die sind ihre Partner.

Der Einschnitt durch den Krieg und seine ökonomischen wie sozialen Folgen ist so tief, dass die Regierung weder bestimmten Gesellschaftsgruppen noch für einzelne Bereiche des Alltags versprechen kann, dass sie garantiert ausgespart bleiben von Einschnitten. Um den Schaden für das gemeinsame Wohl zu minimieren, muss sie abwägen, wie alle einen Beitrag leisten: als Solidargemeinschaft.

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