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Mehrere Tausend Menschen demonstrieren in Stuttgart gegen Corona-Beschränkungen. Aufgerufen hatte die Initiative Querdenken711, die das Grundgesetz in Gefahr sieht. Demonstriert wurde auf dem Cannstatter Wasen.

© imago images/Arnulf Hettrich

„Das wird man ja wohl mal sagen dürfen“: Der fehlgeleitete Furor der Corona-Kritiker

Wer eine offene und ehrliche Debatte über die Corona-Politik vermisst, soll sie gefälligst führen. Niemand hindert sie oder ihn daran. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Der Trick ist so alt wie wirksam. Wer sich mit seinen Argumenten in einer Minderheit befindet, verdächtigt oft finstere, unsichtbare Mächte, die Mehrheitsposition mit unlauteren Methoden zu unterstützen.

Zu diesen finsteren Mächten zählen angeblich gleichgeschaltete Medien, die eine unkritische Öffentlichkeit systematisch manipulieren. Die Meinungen Andersdenkender würden verschwiegen. Dies vorausgesetzt wird das Vortragen der eigenen Meinung als mutiger Widerstandsakt gegen eine allgegenwärtige „Political Correctness“ geadelt.

Denn die Pose des Tabubrechers, der allein der Wahrheit und dem Recht auf Redefreiheit verpflichtet ist, verheißt Prestigegewinn. Nach diversen Mottos: Allein gegen alle. Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Viel Feind‘, viel Ehr‘. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.

Als der Historiker Ernst Nolte im Juni 1986 den Historikerstreit vom Zaun brach, sagte er: „Wahrheiten willentlich auszusparen, mag moralische Gründe haben, aber es verstößt gegen das Ethos der Wissenschaft.“

"sage ich vor Kühnheit zitternd"

Als Martin Walser im Oktober 1998 seinen Widerwillen gegen die Erinnerung an Auschwitz vortrug, leitete er das mit der Formulierung ein „sage ich vor Kühnheit zitternd“.

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Auch Eva Hermann (2007) und Thilo Sarrazin (2010) inszenierten sich nach Veröffentlichung ihrer antifeministischen und antimuslimischen Bücher als Opfer von partei- und medienübergreifenden Inquisitionen.

Umfassend hat diese Dynamik die Germanistin Melani Schröter in ihrem 2015 erschienenen Essay „Sagen oder nicht sagen? – Der Tabu-Vorwurf als strategische Ressource im öffentlichen Diskurs“ analysiert.

Plakate bei sogenannten Hygienedemos

Kurze Zeit nach dieser Publikation, während der von Angela Merkel verantworteten Flüchtlingspolitik, entfaltete das Geraune über Einschränkungen der Meinungsfreiheit und eine manipulative „Lügenpresse“ neue Wucht.

Davon profitierten sowohl Pegida als auch AfD. Deren These: Eine „linksgrünversiffte Presse“, zusammen mit dem „staatshörigen“ Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, verhindere eine breite, kritische Debatte.

[Mehr zum Thema: Es braucht Raum für Rede und Widerrede - Zweifler an den Corona-Maßnahmen sind noch keine Verschwörungstheoretiker]

Nun wird der Vorwurf erneut laut, diesmal im Zusammenhang mit der deutschen Coronapolitik. Bei sogenannten Hygienedemos steht auf Plakaten: „Coronalüge – informiert euch!!!“

Der Staat habe sich mit Pharma- und Digitalkonzernen verbündet, um die Demokratie abzuschaffen, heißt es. Die „Maskenpflicht“ sei der Beginn einer „Neuen Weltordnung“. Bill Gates wolle die gesamte Menschheit impfen lassen.

Auf Talkshow folgt Talkshow

Das ist die offensive Variante der Das-muss-mal-gesagt-werden-Pose. Die defensive Variante kommt subtiler daher. Ihre Vertreter eint ein diffuses Unbehagen über die massiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Coronapolitik.

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Aber sie scheuen sich, konkrete Alternativen vorzuschlagen. Stattdessen fordern sei eine breite Debatte über Alternativen, was suggerieren soll, dass es eine solche Debatte nicht gibt. „Das ist keine Debatte. Das ist Manipulation!“, schrieb ein Kommentator in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

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Doch natürlich gibt es die Debatte. Es kennzeichnet die Coronapolitik, dass über alles diskutiert wird. Über deren Folgen, den Wert des Lebens, die Dauer eines Lockdowns, die Freiheitsrechte, das Modell Schweden, das Modell Südkorea, die drohende Rezession. Nichts wird ausgespart.

Auf Talkshow folgt Talkshow. Politiker, Ökonomen, Virologen, Sänger und Schauspielerinnen kommen zu Wort. Und wenn die Bundeskanzlerin vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ warnt, dann ist auch das nur eine Meinung unter vielen, die gehört oder ignoriert werden kann. Mehrere Ministerpräsidenten gehen bereits eigene Wege.

Daher ist es ganz einfach: Wer auch immer eine offene und ehrliche Debatte über die deutsche Coronapolitik vermisst, soll sie gefälligst führen. Niemand hindert sie oder ihn daran. Keine Autorität, keine Zensur. Die Presse ist frei und unabhängig, die Volksvertreter sind ihrem Gewissen verpflichtet. Eine Neuauflage der Tabubruchs-Rhetorik braucht keiner.

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