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Recep Tayyip Erdogan am Dienstag in Ankara, vor Abgeordneten seiner Partei, der AKP.

© Turkish Presidential Press Service / AFP

Demokratie in der Türkei: Erdogan verhöhnt die Mehrheit

Vor 30 Jahren wurden die Kommunalwahlen in der DDR gefälscht. Die Folgen des Betrugs sollten eine Warnung sein - für Recep Tayyip Erdogan. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

An ihren Ausreden sind sie zu erkennen, die Illiberalen, die Autokraten, die Machtversessenen. Das Volk sei stark, reden sie ihm ein, aber das Land von Feinden umzingelt und von Gegnern unterwandert. Zum Schutz von Vaterland und Demokratie müssten daher drastische Maßnahmen ergriffen werden – die Entmachtung des Parlaments, die Drangsalierung von Justiz und Medien, das Ausschalten der Opposition. So lange eine solche Propaganda einen Rest an Rationalität enthält, kann sie wirken – siehe Wladimir Putin, siehe Recep Tayyip Erdogan.
Doch was passiert, wenn die Masken fallen, sich die Ausreden als Lügen entpuppen, wenn nicht einmal mehr der Versuch unternommen wird, einen Betrug zu kaschieren? Genau das ließ sich vor just 30 Jahren in der DDR beobachten. An der Inszenierung ihrer „Wahlen“ hatte die SED immer festgehalten, man wollte das Image einer demokratischen Republik pflegen. Jeder wusste allerdings, dass diese „Wahlen“ eine Farce waren, weil die Regierung ohnehin stets auf eine Zustimmungsrate von rund 99 Prozent kam.

Doch erst, als Dissidenten bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 die Fälschungen dokumentierten, wurde aus der Lüge, die allen bewusst war, eine bewiesene Lüge, die trotz der Beweise geleugnet wurde. Der Lack war endgültig ab.

Der türkische Präsident Erdogan behauptet ebenfalls, ein Demokrat zu sein. Sein Land ist Mitglied der Nato, dem westlichen Verteidigungsbündnis, dem es ausweislich seiner Rhetorik auch um Werte geht. Vor drei Jahren putschten Teile des türkischen Militärs gegen die Regierung in Ankara. Es gab Tote und Verletzte, viele Bürger kämpften unter Lebensgefahr gegen die Putschisten. Schließlich scheiterte der Umsturzversuch.

Der Schock aber saß tief und verursachte bei Erdogan eine Art Verfolgungswahn. Er reagierte mit Massenentlassungen von angeblich verdächtigen Staatsbediensteten und Massenverhaftungen von angeblich gefährlichen Oppositionellen. Er allein, meint Erdogan, sei der Garant der türkischen Demokratie.

Im Volk gärt der Unmut

Jetzt ist sein hohes Lied auf die Demokratie als verlogen entlarvt worden. Erdogan selbst hat das getan. Bei der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul hatte seine AKP Ende März gegen die Opposition verloren. Das passte dem Herrscher nicht. Also stellte er einen Antrag auf Annullierung der Wahl, dem die Wahlkommission nun entsprach. Das zeigt: Ein Machtwechsel durch Mehrheitsvotum des Volkes ist in der Türkei nicht mehr möglich. Erdogans Lob der Demokratie ist ein Lippenbekenntnis, das ausschließlich dazu dient, seinen Machthunger zu tarnen.

Es ist möglich, dass der türkische Präsident noch eine Zeitlang damit durchkommt. Doch im Volk gärt der Unmut über eine Politik, die die Wirtschaft ruiniert, und über Erdogan, der die demokratischen Institutionen aushebelt, entwertet und instrumentalisiert.

In der DDR dauerte es ein halbes Jahr, bis sich der Betrug in den Kommunalwahlen an den Betrügern rächte. Vielleicht braucht der Westen auch im Umgang mit Erdogan vor allem eins – Geduld.

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