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Kriseneinsatz. Soldaten bewachen die Tankstellen.

© Marwan Naamani/dpa

Benzinmangel, Stromausfälle und eine neue Explosion: Der Libanon versinkt im Chaos

Der Libanon versinkt immer tiefer in eine Krise: Die Inflationsrate liegt bei 120 Prozent, Benzin ist kaum noch zu bekommen.

Eine Explosion reißt 33 Menschen in den Tod. Ein Mädchen stirbt an einem Skorpionbiss, weil Apotheken kein Gegengift mehr haben. Einem Krankenhaus droht der Strom auszugehen. Das sind nur einige Nachrichten der letzten Tage aus dem Libanon, einem Land im freien Fall. Und diejenigen, die die Schuld daran tragen, schauen aus der VIP-Lounge dabei zu.

Als sich vor einem Jahr im Beiruter Hafen eine gewaltige Explosion ereignete, die rund 200 Menschen tötete, sagten viele: Das ist der Tiefpunkt. Ein Jahr später weiß man: Die Explosion, ausgelöst durch schlampige Lagerung explosiver Materialien, war bloß eine weitere Station auf dem Weg nach unten, in Misere und Armut, Wut und Verzweiflung.

Die Schweiz des Nahen Ostens nannte man Libanon einst, dieses kleine Land am Mittelmeer mit seinen malerischen Bergen, den scheinbar mächtigen Banken, den eleganten Cafés und der gut gekleideten Beiruter Mittelschicht, deren Angehörige in ihren Gesprächen so fließend zwischen Arabisch und Französisch hin- und herwechseln, als handele es sich um dieselbe Sprache.

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Nun jedoch versinkt das Land immer tiefer in eine Krise, die große Teile der Bevölkerung in die Armut reißt. Die Inflationsrate liegt bei 120 Prozent, Preise für Lebensmittel steigen sogar noch schneller. Benzin ist kaum noch zu bekommen. Schmuggler verkaufen große Mengen davon in Syrien, wo sie einen besseren Preis dafür verlangen können. Am Sonntag explodierte im Norden des Landes ein Treibstofftank, mindestens 33 Menschen starben. Offenbar hatten sie versucht, an Benzin zu gelangen.

„Gestern habe ich zwei Stunden vor einer Tankstelle gewartet“, erzählt Philippe El Khoury, ein 40-jähriger Libanese aus der Hafenstadt Byblos, im Zoom-Gespräch. „Am Ende habe ich acht Liter bekommen.“ El Khoury arbeitet für eine Firma für erneuerbare Energien. Wenn ein Kunde derzeit Solarpanels bestellt, hat die Firma oft Schwierigkeiten, das Produkt zu transportieren.

Libanons Krise ist hausgemacht

Weil das staatliche Stromnetz so unzuverlässig ist, nutzen viele Libanesen Treibstoff-betriebene Generatoren. Auch diese fallen nun immer öfter aus. Das American University of Beirut Medical Center, eine der angesehensten Kliniken des Landes, veröffentlichte am Samstag eine dramatische Warnung. In wenigen Tagen könnte ihr der Strom ausgehen, woraufhin 150 Patienten, abhängig von Beatmungs- oder Dialysegeräten, der Tod drohe. Auch an Medikamenten mangelt es, teils sogar an Nahrung. Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte musste die internationale Gemeinschaft kürzlich um Lebensmittelspenden für die Soldaten bitten. Wer kann, kehrt der Misere den Rücken. „Alle Ärzte und Professoren gehen“, sagt El Khoury. „Auch 90 Prozent meiner Freunde, die Kinder haben, sind schon weg.“

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Libanons Krise ist hausgemacht: Über Jahre hinweg hielt die Zentralbank den Wechselkurs der heimischen Währung künstlich hoch, indem sie libanesische Pfund kaufte. Nachdem sie ihre Dollarreserven aufgebraucht hatte, lieh sie von heimischen Banken. Die wiederum boten Privatkunden absurd hohe Zinsen auf US-Dollar an, um für Nachschub zu sorgen. Vor knapp zwei Jahren brach das System erwartungsgemäß zusammen. Die Banken ließen Kunden nur noch 200 US-Dollar im Monat abheben, in lokaler Währung, zu einem unrealistischen Wechselkurs. Große Teile des Sparvermögens der Bürger wurden ausgelöscht. Politiker und Banker wiederum sollen ihr Geld rechtzeitig außer Landes geschafft haben. Libanons Regierung scheint derweil unwillig oder unfähig, die Krise auch nur zu mindern.

Selbst Philippe El Khoury, der sich mit einem Lächeln als „wahrscheinlich größter Optimist der Welt“ bezeichnet, gibt zu: „Es ist ziemlich hart.“ Das Land verlassen wie seine Freunde will er dennoch nicht. „Wir Libanesen sind es gewohnt, mit Krisen umzugehen“, sagt er. „Ich kann mich an kein Jahr erinnern, das ich hier in normalen Bedingungen verbracht habe.“

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