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Innenansicht der DITIB Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld am Tag der offenen Moschee.

© IMAGO/Panama Pictures/IMAGO/Christoph Hardt

Deutsche Muslime enttäuscht von Koalitionsvertrag: „Schlag ins Gesicht, Kuschen vor Muslimfeindlichkeit der AfD“

Als massiven Rückschritt kritisieren Muslime und Beobachter die absehbare Politik von Union und SPD in Sachen Islampolitik. Nöte der Muslime würden ignoriert.

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Wut und Enttäuschung ruft der Koalitionsvertrag bei Muslimen in Deutschland hervor. Hauptkritikpunkt: Der Islam taucht darin nur im Zusammenhang mit Extremismus auf. Nöte der Muslime würden hingegen ignoriert.

Naika Foroutan ist Professorin an der Humboldt-Universität, leitet dort das Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel kritisierte Foroutan: „Der Koalitionsvertrag ist anachronistisch. Die Wörter Muslime und Islam tauchen kein einziges Mal auf. Es geht ausschließlich um Islamismus.“ Foroutan sagte: „Das ist eine Politik der 60er Jahre: eine Negation, dass Muslime hier leben und hierbleiben und muslimisches Leben den Alltag, die Kultur und die Arbeitsmärkte dieses Landes prägt.“

Das sieht auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) so und zeigte sich in einer Stellungnahme tief besorgt über „die inhaltlichen Leerräume und unausgewogenen Schwerpunktsetzungen im Koalitionsvertrag“.

Islam nur im Zusammenhang mit Islamismus-Bekämpfung

Der Zentralrat beklagte, dass antimuslimischer Rassismus nicht explizit genannt werde. Und: „Besonders schwer wiegt, dass muslimisches Leben im gesamten Koalitionsvertrag weder benannt noch in irgendeiner Weise wertschätzend anerkannt wird. Die Beiträge muslimischer Gemeinden zu Bildung, Sozialem, Kultur und Zusammenhalt finden keine Erwähnung“, heißt es in der Mitteilung. „Stattdessen taucht der Begriff ‚Islam‘ ausschließlich im Zusammenhang mit Islamismus-Bekämpfung und Sicherheitsbedrohung auf. Diese einseitige Darstellung transportiert ein verzerrtes Bild – und setzt ein falsches politisches Signal.“

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Im Schnitt würden fünf antimuslimische Straftaten pro Tag gezählt, so Foroutan. Aber: „Im Koalitionsvertrag fehlt das Thema komplett.“

Die Wissenschaftlerin kritisierte, es sei nicht nachvollziehbar, dass in einem Einwanderungsland wie Deutschland, in dem rund ein Drittel der Bevölkerung eine Migrationsbiographie habe, die Bedürfnisse von hochgerechnet sechs Millionen Muslime nicht adressiert würden. „Die Pluralität dieser Communities, ihre Kultur, ihre Rolle in der Bevölkerung, als Nachbarn, als Partner, als Freunde, als Arbeitskollegen wird aktiv unsichtbar gemacht“, sagte Foroutan.

Sie ordnete ein: „Laut Verfassungsschutzbericht wird das Islamismuspotenzial auf 27.200 Personen geschätzt. Rechnen Sie das mal auf knapp sechs Millionen Muslime um. Was ist mit den übrigen 99 Prozent? Mit ihrem Engagement in der Gemeindearbeit, Nachbarschaftshilfe, ihrem Ehrenamt als Fußballtrainer, ihrem Vorbild als Nachrichtesprecherin, Apothekerin, Dönerverkäufer, Schauspieler, Lehrer, Journalisten oder Politiker?“ Foroutan erklärte: „Ich empfinde diesen Koalitionsvertrag als großen Vertrauensbruch. Das ist ein Schlag ins Gesicht, ein Kuschen vor der Muslimfeindlichkeit der AfD.“

Was im Koalitionsvertrag formuliert ist, sind Pläne der künftigen schwarz-roten Koalition im Kampf gegen Islamismus. Diese werden unterschiedlich eingeschätzt.

„Radikalisierung, Polarisierung und Manipulation aus dem Ausland“

Worum geht es? Konkret heißt es im Koalitionsvertrag, der Staat werde künftig nicht mehr mit Vereinen oder Verbänden zusammenarbeiten, die aus dem Ausland gesteuert werden oder die vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Zudem sollten diese Verbände ihre Finanzierung offenlegen.

„Das ist aus meiner Sicht keine übertriebene Forderung“, sagte Foroutan. „Gerade da, wo Sicherheitsinteressen berührt werden, sollte der Staat konsequent sein. Ich hoffe – und gehe davon aus – dass Union und SPD damit auch den Einfluss rechter israelischer Interventionen meinen, russischer, iranischer, oder US-amerikanischer. Wenn Communities und Bürger hier in Deutschland unter Druck gesetzt werden oder Radikalisierung, Polarisierung und Manipulation aus dem Ausland erfolgt, muss die Demokratie sich wehren.“

Einer der Verbände, der neben Ditib im Koalitionsvertrag mit „Verbänden“ gemeint sein dürfte, ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Nach eigenen Angaben hat sie rund 200.000 Mitglieder in Deutschland, betreibt vielerorts Moscheen.

Auf Bundesebene steht ihr Generalsekretär Ali Mete vor. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel gibt sich Mete gelassen: „Ich würde das nicht zu hoch bewerten. So etwas war zu erwarten.“ Mete erklärte: „Da wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Im Übrigen fühlen wir uns nicht angesprochen. Wir finanzieren uns nicht aus dem Ausland, sondern über Mitgliedsbeiträge und Spenden.“

Ali Mete, IGMG-Generalsekretär.

© IGMG

Auch der IGMG-Generalsekretär kritisierte den Koalitionsvertrag: „Ich verstehe, dass diese Koalition erfolgreich sein muss, sonst könnte es 2029 in eine ganz andere Richtung gehen. Ich verstehe auch, dass man eine stark auftretende Regierung bilden möchte.“ Mete schränkte ein: „Das darf aber nicht auf dem Rücken von Minderheiten wie Muslimen ausgetragen werden. Eine Gesellschaft durch Ausgrenzung von bestimmten Bevölkerungsgruppen zusammenhalten zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt und widerspricht unserer Verfassung.“

Im aktuellen Verfassungsschutzbericht kommt IGMG allerdings noch vor. Darin heißt es aber, Extremismusbezüge seien in den vergangenen Jahren schwächer geworden. Mete argumentiert, dass IGMG in 14 von 16 Bundesländern nicht mehr in den Verfassungsschutzberichten erwähnt werde.

Austausch zwischen Muslimen unterschiedlicher Herkunft

So einfach, wie es im Koalitionsvertrag klingt, wäre eine Abgrenzung zu Verbänden wie Ditib und IGMG jedenfalls nicht. „Der Islamrat ist in diversen universitären Beiräten für islamische Theologie vertreten. Wir sind Mitglied des Islamrates.“ Der sogenannte Islamrat fasst mehrere muslimische Verbände zusammen, IGMG ist jedoch das größte Mitglied.

Und nicht nur im Zusammenhang mit Universitäten und Religionsunterricht kooperieren die Verbände längst mit staatlichen Institutionen. „Gerade haben zum Ramadan viele Bürgermeister, Abgeordnete und Kirchenvertreter unsere Moscheen besucht. Das ist die Normalität vor Ort“, sagte Mete.

Ditib hatte im März Bilder mit der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz veröffentlicht, die zum Fastenbrechen zu Besuch gekommen sei.

Tatsächlich findet auf Ebene der Länder und Kommunen ein stetiger Austausch zwischen Muslimen unterschiedlicher Herkunft und staatlichen Vertretern statt – zumindest im Westen, wie Foroutan betonte. Gerade die CDU-geführten Länder seien „in der Regel stark in der Kooperation“.

Foroutan sagte: „Man muss zurecht die Abhängigkeit von der türkischen Religionsbehörde kritisieren, sollte aber gleichzeitig ein Angebot machen, wie eine Finanzierung der Imame hierzulande gesichert werden soll.“

Muslimische Wähler machten laut Foroutan hochgerechnet zwar nur um die drei Prozent der Wähler ausmachten. Allerdings können diese drei Prozent mit Blick etwa auf Parteien wie das BSW, die FDP oder die Linke durchaus relevant werden.

Interessant: Laut einer Analyse der Forschungsgruppe Wahlen haben 29 Prozent der Muslime in Deutschland bei der vergangenen Bundestagswahl die Linkspartei gewählt, 28 Prozent die SPD und 16 das BSW (CDU: 12, AfD: 6, Grüne: 4). Der Zentralrat kam zu dem Schluss: Die Koalitionäre ignorierten das muslimische „Wähler:innenkapital“.

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