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Menschen mit gerichtlich bestellter Betreuung dürfen bisher bei der Europawahl nicht an die Urne.

© dpa

"Die Regierung hätte das längst angehen müssen": Deutscher Behindertenrat dringt auf Wahlrecht für betreute Menschen

Viele Menschen mit Betreuer sind von Wahlen ausgeschlossen. Horst Frehe vom Deutschen Behindertenrat hält das für verfassungswidrig. Ein Interview.

Herr Frehe, das Bundesverfassungsgericht verhandelt über einen Eilantrag, der Menschen mit gerichtlich bestellter Betreuung ermöglichen soll, an der Europawahl teilzunehmen. Was erwarten Sie von dem Urteil?

Ich gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung auch in diesem Fall umsetzt: Dass es verfassungswidrig ist, Menschen vom Wahlrecht auszuschließen, die unter vollständiger Betreuung stehen.

So hatte es das Verfassungsgericht schon Anfang 2019 entschieden. Die neue Regelung der Koalition tritt aber erst nach der Europawahl in Kraft.

2006 ist die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet worden. Seither ist eigentlich klar, dass der Ausschluss von Wahlen gegen die Menschenrechte verstößt, spätestens aber seit der Entscheidung des Verfassungsgerichts. Die Regierung hätte das längst angehen können – und müssen.

Bei vielen Landtagswahlen dürfen unter Betreuung stehende Menschen bereits wählen, bei der vergangenen Bundestagswahl durften sie es nicht.

Ja. Ich lebe in Bremen, dort findet im Mai die Bürgerschaftswahl am selben Tag wie die Europawahl statt. Hier könnte es zu der absurden Situation kommen, dass einige Menschen bei der einen Wahl eine Stimme haben, bei der anderen aber nicht.

Horst Frehe (68) ist Sprecher des Deutschen Behindertenrats.
Horst Frehe (68) ist Sprecher des Deutschen Behindertenrats.

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Bundesweit sind etwa 80.000 Personen betroffen. Was für Menschen verbergen sich hinter dieser Zahl?

Sehr unterschiedlich. Zu der Gruppe gehören viele alte Menschen, die ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen können. Oder Leute mit psychischen Erkrankungen. Auch Personen, die eine Straftat begangen haben, für die sie wegen ihrer Krankheit nicht verantwortlich gemacht werden können und in der forensischen Abteilung einer Psychiatrie sind. Wer per Gericht unter vollständige Betreuung gestellt wird, ist aber innerhalb von Deutschland sehr unterschiedlich.

Inwiefern?
Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle. In Süddeutschland ordnen Richter wesentlich häufiger umfassende Betreuung an als im Norden. Das betrifft besonders viele Menschen, die in der Tat keine komplizierten Verträge allein durchschauen und abschließen können. Die aber sehr wohl mitkriegen, was politisch um sie herum passiert und eine sehr differenzierte Meinung haben. Die werden vom Wahlrecht ausgeschlossen, das ist ein Unding.

Diese Menschen bräuchten aber Hilfe in der Wahlkabine, oder?

Es gibt Leute, die nicht lesen und nicht schreiben können. Die brauchen in der Wahlkabine Unterstützung. Aber die Hilfe gibt es ja auch bei Menschen, die schlicht blind sind und an der richtigen Stelle ihr Kreuz machen wollen.

Sie befürchten nicht, dass die Wahl von anderen beeinflusst werden könnte?

Ich halte das für ein vorgeschobenes Argument. Bei vielen Wählern gibt es die Gefahr, dass die Wahl beeinflusst wird. Es gab Fälle, in denen ein Kandidat durchs Altenheim ging, sich die Wahlunterlagen zeigen ließ und selber das Kreuz im Namen der Bewohner gemacht hat. Aber das Wahlsystem ist so sicher, dass das nur wenig geschieht. Ich weiß, dass viele betreute Menschen sehr genau wissen, wen sie wählen wollen. Bei manchen Wahlentscheidungen von Menschen ohne Betreuung bezweifle ich aber, ob das eine wohlinformierte Entscheidung ist.

Horst Frehe (68) ist Sprecher des Deutschen Behindertenrats und war 16 Jahre lang Richter am Sozialgericht. Von 2011 bis 2015 war er Staatsrat der Bremer Sozialsenatorin, zuvor war er Mitglied der Bremer Bürgerschaft für die Grünen.

Jonas Mielke

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