zum Hauptinhalt
Kandidat mit Chancen. Finanzminister Rishi Sunak, dessen Familie aus dem indischen Punjab stammt, hat eine typisch britische Oberschichts-Karriere gemacht.

© Reuters/John Sibley

Debatte um Johnson-Nachfolge: „Die Hautfarbe ist eher unbedeutend“

Sechs Kandidaten aus ethnischen Minderheiten bewerben sich als britischer Premier. Ein Gespräch mit dem Migrationsexperten Sunder Katwala.

Herr Katwala, sechs von elf Kandidaten für das Amt des Premierministers gehören ethnischen Minderheiten an. Wie erklären Sie sich das?

Von außen betrachtet zeugt das von einem wirklich erstaunlichen Selbstwertgefühl. Denn die Torys haben unter ihren 358 Abgeordneten gerade mal 21 Nicht-Weiße. Beinahe ein Drittel davon hält sich also für fähig, Premierminister zu sein. Die Hautfarbe ist in der britischen Gesellschaft insgesamt weniger von Nachteil als je zuvor. Bei den Konservativen scheint sie geradezu von Vorteil zu sein.

Der bisherige Favorit, Ex-Finanzminister Rishi Sunak, kam als Sohn indischer Einwanderer auf die Insel.
Und ging hier auf die teure und berühmte Privatschule Winchester, anschließend nach Oxford, arbeitete für Goldman Sachs, wurde Millionär. Also eine klassische Oberschichts-Karriere. Abgesehen von der Hautfarbe sieht sein Lebenslauf aus wie der des früheren langjährigen Finanzministers George Osborne oder vergleichbarer weißer Politiker.

Einige der Kandidaten mit Migrationshintergrund dürften rasch aus dem Rennen sein, aber mindestens drei haben starken Zulauf. Woran liegt das?
Die Konservativen wären sowohl auf der Ebene der Mitglieder wie in der Parlamentsfraktion richtig glücklich, wenn sie als erste britische Partei einen andersfarbigen Vorsitzenden hätten. Das würde nämlich das Narrativ ihrer Geschichte stärken: „Seht her, wir waren immer die Ersten.“ Der erste Premierminister mit jüdischen Wurzeln war Disraeli im 19. Jahrhundert. Die erste Frau in der Downing Street: Margaret Thatcher. Nun also womöglich die oder der erste Angehörige einer ethnischen Minderheit. Die Torys lieben diese Geschichte, und man muss ja auch sagen: Sie stimmt.

Hat es auch wahltaktische Gründe?
Wählen Andersfarbige eher die Konservativen, sobald sie sich in deren Vertretern wiedererkennen? Die Statistik spricht nicht dafür. Bis heute ist eine nicht-weiße Hautfarbe der wichtigste Indikator dafür, nicht das Kreuz bei den Torys zu machen.

Die ethnische Zugehörigkeit spielt eine größere Rolle als Geschlecht, Religion, soziale Schicht?
So ist es. Der frühere Parteichef David Cameron nahm dieses Problem sehr ernst. Als er 2005 ins Amt kam, hatten die Torys gerade mal je einen Schwarzen und einen Asiaten in ihrer 198-köpfigen Parlamentsfraktion. Er ermöglichte Menschen anderer Hautfarbe die Kandidatur in aussichtsreichen Wahlkreisen. Und siehe da: Nicht nur wurden diese Leute von den örtlichen Konservativen ausgewählt, sondern die Wählerschaft verhielt sich ebenfalls farbenblind. Die Konservativen gehören in dieser Hinsicht zu den besonders progressiven britischen Institutionen. Zusätzliche Wählerstimmen bringt es aber nicht.

Sunder Katwala, 47, arbeitet für den überparteilichen Thinktank British Future, der sich mit Fragen der Migration, dem des Schutzes und der Integration von Flüchtlingen beschäftigt.
Sunder Katwala, 47, arbeitet für den überparteilichen Thinktank British Future, der sich mit Fragen der Migration, dem des Schutzes und der Integration von Flüchtlingen beschäftigt.

© privat

Ein prominenter Londoner Anwalt fragte dieser Tage an Rishi Sunak gerichtet: „Ist das Land bereit, einen Braunen zu wählen?“ Sie haben sehr unwillig reagiert.
Naja, weil da liberale Großstädter den Wählern Rassismus unterstellen, den es erwiesenermaßen schon seit Längerem nicht gibt. Oder genauer gesagt: Es gibt natürlich Rassisten, aber sie fallen nicht ins Gewicht. Als die Torys vor 30 Jahren mit einem schwarzen Kandidaten den Wahlkreis Cheltenham verloren, behaupteten alle: Das lag am Rassismus in diesem beinahe gänzlich weißen Bezirk. Dabei fiel der Kandidat lediglich dem Trend zum Opfer. In West-England mussten die Torys damals mehrere Sitze an die Liberaldemokraten abgeben. Cheltenham war ebenfalls ein Wackel-Wahlkreis. Die Hautfarbe spielte schon damals eine unbedeutende Rolle.

Stellt dieser offenkundige Fortschritt in der Anerkennung andersfarbiger Politikerinnen bei den Torys ein Problem dar für die Opposition?
Labour ist europaweit führend, was die Anzahl andersfarbiger Parlamentarier angeht. In der derzeit 200-köpfigen Unterhausfraktion sind es 40 Menschen, also 20 Prozent, was genau dem Mitgliederanteil entspricht.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Aber nur ein einziges Mal bewarb sich eine Schwarze um den Parteivorsitz: Diane Abbott 2010 als Zählkandidatin der harten Linken.
Da gibt es bestimmt Hemmungen, weil die meisten ethnischen Labour-Abgeordneten großstädtische Wahlkreise, vor allem in London, vertreten. Die Befürchtung lautet: Man wird noch mehr als Londoner Partei wahrgenommen. Wahrscheinlich muss Labour es erst mal schaffen, eine Frau zur Chefin zu machen, ehe Nicht-Weiße zum Zug kommen. Immerhin hat die Labour-Party in Schottland Anas Sarwar zum Regionalvorsitzenden gewählt und in London Sadiq Khan ins Bürgermeisteramt gehievt. Beide sind pakistanischstämmige Muslime.

Und wie ist die Lage bei den Liberaldemokraten?
Nicht gut. 2015 bestand ihre Fraktion aus acht weißen Männern. Inzwischen sind es fünf Männer und neun Frauen, von denen zwei zu ethnischen Minderheiten zählen. Die Lib-Dems reden dauernd davon, die Einstellung ihrer Basis müsse sich wandeln, weil dort die Kandidaten bestimmt werden. Camerons Beispiel aber zeigt: Der Wandel muss von oben kommen.

Sunder Katwala, 47, arbeitet für den überparteilichen Thinktank British Future, der sich mit Fragen der Migration, dem des Schutzes und der Integration von Flüchtlingen beschäftigt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false