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Der ehemalige französische Präsident Francois Hollande mit Angela Merkel in Versailles.

© Reuters/Martin Bureau/Pool

Frankreich und Deutschland: Die Sozialisten sollten der SPD eine Warnung sein

Weil das Psychodrama in der SPD kein Ende findet, droht den Sozialdemokraten in Deutschland das Schicksal der Sozialistischen Partei in Frankreich. Eine Kolumne.

Die SPD sollte zurzeit lieber nicht so genau hinschauen, was sich jenseits des Rheins abspielt. Ihre Führung könnte es mit der Angst zu tun bekommen und die Zuversicht verlieren, die sie in den nächsten Wochen so dringend braucht. Auf der französischen Seite winkt eine ausgemergelte Vogelscheuche: Von der PS, der stolzen Sozialistischen Partei Frankreichs von Jean Jaurès, Léon Blum, Pierre Mendès France und François Mitterrand ist kaum mehr als eine armselige, in Lumpen gekleidete Kreatur geblieben.

Eine Partei, die seit ihrer historischen Niederlage bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen nicht mehr aus dem Schwanken herauskommt. 6,3 Prozent gaben ihre Stimme für die Sozialistische Partei ab (21,3 hingegen für den Front National von Marine Le Pen), und nur 28 sozialistische Abgeordnete sitzen in der Nationalversammlung. Das ist wenig! Da kann die PS noch so viel reden: Keiner hört ihr mehr zu. Sie ist das eigentliche Opfer der Zersplitterung der politischen Landschaft Frankreichs und des spektakulären Erfolgs von Emmanuel Macron.

Bei rund 440.000 Mitgliedern (zuzüglich der 24.339 neuen Mitglieder, die im letzten Moment der SPD beigetreten sind, um gegen die Groko stimmen zu können) und einem immerhin zweistelligen Wahlergebnis kann bei der SPD von Agonie noch keine Rede sein. Doch es geht ihr immer schlechter. Und der letzte Akt in diesem großen Schauspiel, das wir seit Monaten von der Partei und zuletzt von den Rivalen Schulz und Gabriel geboten bekommen, macht das Ganze nicht gerade besser. Ein wenig erfreuliches Psychodrama. Und was für ein Absturz für Martin Schulz!

Vor nicht einmal einem Jahr trat der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments noch als Retter auf. Die Illusion währte nicht lange. Und nun bleiben nur noch wenige Tage für die Parteispitze, um ihre Basis davon zu überzeugen, dass sie „bis es quietscht“ mit Angela Merkel und Horst Seehofer verhandelt hat. Die Delegierten werden durchs Land ziehen mit einem schwerwiegenden Personalstreit im Gepäck, das schon schwer genug ist vom Zagen und Zaudern und von 180-Grad-Wendungen im letzten Moment.

Die Sehnsucht nach einem Chef, der auf den Tisch haut

In Frankreich versteht man indessen gar nichts mehr. Ja, man wird langsam ungeduldig. Was sollen all diese Turbulenzen und Streitereien? Was sollen all diese Abstimmungen? Erst stimmten die Delegierten über die Aufnahme von Sondierungsgesprächen ab, dem Vorspiel, bevor es zur Sache geht. Dann stimmten sie noch einmal ab, diesmal über echte Koalitionsgespräche. Jetzt haben wir endlich einen Koalitionsvertrag, der noch jedes klitzekleine Detail auflistet, um bloß nichts dem Zufall zu überlassen. Doch das Verfahren ist noch lang nicht zu Ende: Die Zukunft der neuen Regierung liegt nun in den Händen der SPD-Mitglieder.

Und die werden sich Zeit lassen! Sie werden den Koalitionsvertrag unter die Lupe nehmen, endlos darüber diskutieren und dann in aller Ruhe ihren Stimmzettel in einen Umschlag stecken. Wahrscheinlich dauert es bis März. Die ganze Prozedur ist so langsam und so kompliziert, dass man sich fast schon nach einem autoritären System zurücksehnt, in dem der Chef mit der Faust auf den Tisch haut und verkündet: Schluss jetzt! Hier geht’s lang! Wenn aber nun die Parteibasis allem eine Abfuhr erteilt: dem Vertrag, der Groko, Cäsar und Brutus und allen anderen … Gleicht dann am Ende die ehemals stolze SPD nicht doch der Vogelscheuche PS?

Übersetzt aus dem Französischen von Odile Kennel

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