zum Hauptinhalt

Deutschland in Europa: Die Unentschlossenheit der Rechten

Die EU-Abgeordneten der AfD widersprechen ihrem eigenen Wahlprogramm. Den Austritt aus der Union als „letzte Option“ wollen sie nicht.

[Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Beilage "Deutschland in Europa", einem Projekt mit Masterstudierenden der Universität Hamburg]

Der Widerspruch könnte größer kaum sein. „Das undemokratische EU-Parlament mit seinen derzeit privilegierten 751 Abgeordneten wollen wir abschaffen“ – so heißt es im 88-seitigen Europawahlprogramm der Alternative für Deutschland (AfD). Das hielt die Partei nicht davon ab, für das Hohe Haus zu kandidieren. Seit Juni 2019 gehören dem Europaparlament gleich elf deutsche Mitglieder an, die der zentralen Institution der europäischen Gesetzgebung ein Ende bereiten wollen. Wie passt das zusammen?

Glaubt man dem Münchner AfD-Abgeordneten Bernhard Zimniok, dann wollen er und seine Parteifreunde in Brüssel etwas verändern und Positives erreichen. „Wir wollen nicht zertrümmern“, sagt er, „aber wenn die Krake Europa weiterhin in alle Lebensbereiche eingreift, dann müssen wir uns etwas überlegen“. Vage, unbestimmte Aussagen wie diese entsprechen dem Eindruck, den die rechtspopulistischen Alternativen auch sonst auf dem europäischen Parkett hinterlassen.

Schon in der vorhergehenden Legislaturperiode hatte die AfD sieben Sitze im Europäischen Parlament. Doch gleich sechs der sieben gewählten Volksvertreter sind mittlerweile aus der Partei wieder ausgetreten. Darunter Bernd Lucke, Mitbegründer der AfD. Er kritisierte die Partei 2015 als ausländerfeindlich und rechtsradikal, distanzierte sich von diesem Kurs und gründete eine neue Partei – die Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA), die sich später in Liberal-Konservative Reformer umbenannte. Vier weitere AfD-Abgeordnete schlossen sich ihm an. Marcus Pretzell gab sein Parteibuch den Rechtspopulisten zurück, als seine Gattin Frauke Petry ebenfalls eine neue Partei gründete: die Blauen.

Viel Einfluss haben die deutschen Rechtspopulisten nicht

Das letzte verbliebene Mandat der stellvertretenden Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion Beatrix von Storch übernahm der Parteivorsitzende Jörg Meuthen im Jahr 2017. Er ist somit der einzige AfD-Europaabgeordnete mit einiger Erfahrung. Zum Chef in Brüssel mache ihn das jedoch nicht, sagt Zimniok. „Meuthen ist der Erfahrenste von uns und übernimmt deshalb die Funktion des Sprechers. Aber im Grunde entscheidet jeder nach seinem eigenen Gewissen. Einen Boss wollten wir nicht.“ Jeder Abgeordnete agiere eigenständig, erklärt er. Das habe man mit dem Beitritt zur gemeinsamen Fraktion der europäischen Rechten „Identity and Democracy“ so festgelegt.

Diese Gruppe ist neu im Parlament. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien aus neun Ländern haben sich hier zusammengeschlossen, unter anderem die österreichische FPÖ, die italienische Lega und der französische Rassemblement National.

Allzu viel Einfluss haben die deutschen Rechtspopulisten aber nicht, wie sie selbst einräumen: „Die Stärkeren setzen sich in der Regel durch“, sagt etwa Joachim Kuhs, der für die AfD in Baden-Baden antrat. Die Gesinnungsfreunde aus Italien und Frankreich stellen deutlich mehr Abgeordnete als die AfD. Auch in den Ausschüssen ist die Partei zu klein, um bei Abstimmungen im Namen der ID-Fraktion ihre Anliegen durchzusetzen. „Wir können derzeit als ID nicht mal eine Sperrminorität ausüben“, sagt Kuhs. „Das heißt, wir haben so gut wie keine Chance, irgendetwas umzusetzen oder in irgendeiner Form etwas zu verhindern.“

Das sieht auch der Politikwissenschaftler Claus Leggewie von der Universität Gießen so. Er verfolgt die Entwicklung der europäischen Rechten seit Langem. Ihm zufolge können einige der AfD-Abgeordneten keine nennenswerte politische Erfahrung vorweisen und stellten „blutige Amateure“ dar. Andere seien Offiziere und Polizisten, „Law and Order“-Politiker, wie Leggewie sie nennt. Die Folge sei oft, dass die AfD lediglich Sitzungen verlängere und Sitzungsgelder kassiere. Auf EU-Ebene wirklich etwas zu bewirken sei aber auch gar nicht das Anliegen der AfD-Abgeordneten, meint Leggewie. Stattdessen seien sie vor allem daran interessiert, ihre Partei mit den Ressourcen, die sie im EU-Parlament erhalten, in Deutschland zu stärken. „Rechtsextreme wollen die jeweils nächste Wahl gewinnen – das ist das, womit sie sich beschäftigen, nicht mit Europa. Und eben damit setzen sie die EU aufs Spiel.“

"Dexit" oder nicht? Die Partei ist sich alles andere als einig

Ohnehin ist sich die Partei in Sachen Europa alles andere als einig. Das habe sich bei der Verabschiedung des Europawahlprogramms gezeigt, bestätigten einige Abgeordnete gegenüber dem Tagesspiegel. Darin heißt es etwa, dass ein „Dexit“, also der Austritt Deutschlands aus der EU, durchaus die „letzte Option“ sei, sollten sich die Reformansätze der Partei nicht „in angemessener Zeit“ umsetzen lassen. Einige Abgeordnete der AfD bezeichnen diese Formulierung aber als unglücklich. Ihnen gehe es um eine grundlegende Reform und nicht um einen „Dexit“. Insbesondere die Idee eines supranationalen Staates werde abgelehnt. Man wolle die EU auf ein „Normalmaß zurückstutzen“, sagt der Münchner Kuhs, „bis vor den Maastrichter Vertrag“.

Auch sei es für sie kein Anliegen, zur Deutschen Mark zurückzukehren, obwohl genau das im Europawahlprogramm der Partei steht. Eine „weitere Mitgliedschaft in der Eurozone in der jetzigen Form“ sei „dem deutschen Steuerzahler nicht zumutbar“, hatte der Europaparteitag im Januar 2019 beschlossen. Der Berliner Nicolaus Fest, ehemaliger Vize-Chef der „Bild am Sonntag“, sitzt ebenfalls für die AfD im Europäischen Parlament und kann sich das durchaus vorstellen: „Es stimmt ja, was Frau Merkel gesagt hat: Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa. Und man merkt schon, dass es überall bröselt“, orakelt er. Für Politiker anderer Fraktionen ist der „Dexit“ dagegen keine Option. „Aus meiner Sicht ist das undenkbar. Ich wüsste auch nicht, welche von den demokratischen Parteien sich dem anschließen sollte“, erklärt Jutta Paulus aus der Fraktion der Grünen / Europäische Freie Allianz.

Wie ein Ausstieg aus der EU oder die Auflösung des Europäischen Parlaments überhaupt vonstatten gehen soll, konnten die vom Tagesspiegel befragten AfD-Abgeordneten nicht konkret angeben. Der CDU-Abgeordnete Niclas Herbst, der wie Kuhs Mitglied im Haushaltsausschuss ist, berichtet, die ID-Fraktion stelle während der Sitzungen stattdessen immer wieder Themen zur Debatte, die gar nicht zur Tagesordnung gehörten. Das bestätigt seine Grünen-Kollegin Paulus: „Migration steht natürlich ganz oben auf ihrer Agenda und alles, was mit der engeren Zusammenarbeit in Europa zusammenhängt.“ Besonders im Plenum „hauen sie da auf den Putz“, sagt sie. Allerdings vermieden die deutschen Neo-Nationalisten rechtsextreme Aussagen, beobachtet Paulus. Die AfD wolle sich bewusst bürgerlich präsentieren.

Die Abgeordneten aus Deutschland verpassen keine Gelegenheit, die von ihnen so gesehene Flüchtlingskrise zu thematisieren, sogar im Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter (FEMM). Das berichtet dessen sozialdemokratische Vorsitzende, Evelyn Regner von der SPÖ: „Sie fangen an, eine Gewaltsituation an Frauen zu beschreiben, wie es auch andere Abgeordnete beschreiben würden. Nur zum Schluss kommt dann fast immer der Schlenker ,und deshalb hat der Islam in Europa nichts verloren‘.“ Damit meint Regner vor allem die AfD-Abgeordnete Christine Anderson aus Limburg, die sehr präsent sei und sich viel einbringe. Nicolaus Fest, Andersons Vertreter im Vorsitz, sieht sogar den Ausschuss selbst als Bedrohung: „Der zerstört das Bild der Familie. Außerdem gibt er zu viel Geld für Studien aus, aus denen man keine Konsequenzen lesen kann.“ Warum wirkt er dennoch in diesem angeblich überflüssigen Ausschuss mit? Um den Steuerzahler vor unsinnigen Geldausgaben zu schützen, „selbst wenn es nicht meinem Interesse entspricht“. Aber offenbar ist das mehr Absicht als Tat. „Fest fällt im Ausschuss aktiv bisher nicht auf“, sagt die Vorsitzende Regner.

Samira Debbeler, Melina Kersten, Carlotta Kurth

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false