Politik: Ein Plus wird zum Minus
Essensratschläge für Arbeitslose, böse Worte für Schüler, Lob der Schwarzarbeit: Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin dreht seinen Ton hoch – und löst damit Lärm in der Koalition aus. Womöglich deshalb, weil er mit Ruhe nichts anfangen kann
- Werner van Bebber
- Sabine Beikler
- Stefan Jacobs
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Er provoziert immer weiter. Fast täglich muss die Sammlung der Thilo-Sarrazin-Sprüche aktualisiert werden. Es ist, als wolle es der Berliner Finanzsenator jetzt wirklich wissen: Wie viele brutale Wahrheiten vertragen die Berliner aus dem Mund des Mannes, der ihnen den Umgang mit Geld wieder beigebracht hat?
Seit ein paar Monaten sind es vor allem die Hartz-IV-Empfänger, über die Sarrazin herzieht. Das ist, um es mit einem Sarrazin-gemäßen Sarkasmus zu sagen, in der Hartz-Metropole Berlin die größte Bevölkerungsgruppe, mit der man sich anlegen kann. Im Oktober 2007 brachte er Schwung in eine schläfrige Sitzung des Abgeordnetenhauses, indem er den Koalitionspartner ärgerte. Eine der Parlamentarierinnen von der Linkspartei hatte vom Finanzsenator wissen wollen, was er von einer Vergütung für ehrenamtlich tätige Hartz-IV-Empfänger halte.
Sarrazin antwortete: „Wer als Hartz-IV-Empfänger die Kraft für ein Ehrenamt hat, sollte vielleicht auch mal die Kraft aufbringen, sich um Arbeit zu bemühen und dort seine ersten Aktivitäten hineinlegen.“ Das saß.
Und nach all dem, was vor allem in den letzten Tagen von Sarrazin zu hören war, scheinen viele nun gar nichts anderes mehr von ihm zu erwarten als solche Sätze, die Frechheiten mit Wahrheiten koppeln, die empörend sind und offenbar ohne jede Strategie vorgebracht, die einem Politiker – zumal einem Sozialdemokraten – schlecht zu Gesicht stehen und doch zutiefst politisch sind.
Der gestrige Donnerstag, wieder im Berliner Abgeordnetenhaus. Die Linken-Parlamentarierin Gabriele Hiller leitet ihre Frage zum Berliner Anteil am deutschen Steuerskandal mit der Bemerkung ein: „Da ich fürchte, dass Herr Sarrazin antwortet, fürchte ich mich ein bisschen vor der Antwort.“ Und draußen, jenseits des Sitzungssaals, beschreibt ein führender Linker die Gemütslage beim SPD-Koalitionspartner so: „Wir nähern uns dem Punkt, an dem Konsequenzen gezogen werden müssen.“ Konkreter will er nicht werden.
Sarrazin wirkt zerknirscht an diesem frühen Nachmittag. Auf der Senatorenbank saß er bis jetzt wie ein Aussätziger, sprach nicht wie sonst üblich mit seinen Senatorenkollegen. Er lachte nicht, schaute unbeweglich, tauchte regelrecht unter seine Bank, las Unterlagen durch und einen Artikel im „Stern“. „Mehdorns letzte Fahrt“ heißt er, und Sarrazin kommt darin vor, in seiner Rolle als ehemaliger Vorstand der Deutschen Bahn und Kritiker seines einstigen Chefs. Und mit dem Satz: „Ich habe das Gefühl, ich weiß es besser.“
Seine Antwort auf die Frage der Abgeordneten Hiller beginnt er mit den Worten: „Vor Tatsachen muss keiner Angst haben“ – und verzichtet auf weitere Pointen. Es wird weniger die Linken-Abgeordnete sein, die deshalb aufatmen kann. Eher können das schon Sarrazins eigene Genossen. Vor allem über SPD-Fraktionschef Michael Müller wird erzählt, dass er nahe am Ausrasten gewesen sei angesichts der immer neuen Sprüche.
Denn der Senator gibt keine Ruhe mehr. In der ihm eigenen Art von humordurchdrungenem Ernst legte er vor drei Wochen einen Speiseplan für Hartz-IV-Bezieher vor, um zu zeigen, dass man sich von dem Geld wenigstens einigermaßen ordentlich ernähren könne, garniert mit dem Satz: „Das kleinste Problem von Hartz-IV-Empfängern ist das Untergewicht.“
Dann, am Montag der vergangenen Woche bei einer Veranstaltung in der rheinland-pfälzischen Landesvertretung, soll er – mit Blick auf bayerische Schüler – gesagt haben: „Die können mehr ohne Abschluss als unsere in Berlin mit Abschluss.“ Sarrazin bestritt, dass diese Worte so gefallen sind, aber das glaubte ihm schon keiner mehr.
In der Linksfraktion konzentriert sich der Ärger auf jene Sarrazin-Sprüche, die die Hartz-IV-Empfänger betreffen. „Das passt einfach nicht dazu, was die Koalition tut“, sagt Fraktionschefin Carola Bluhm. Eine Koalition, die – beispielsweise – wegen ihrer Zurückhaltung bei den Zwangsumzügen für Hartz-IV-Empfänger in billigere Wohnungen sogar vom Landesrechnungshof angezählt werde, müsse solche Erfolge nicht von den eigenen Leuten diskreditieren lassen.
Ansonsten sehen die Linken Sarrazins Auftritte eher als Problem der SPD. „Seine Sprüche ergeben kein schlüssiges Gesamtbild“, sagt der Haushälter Carl Wechselberg. Einerseits „sichert er die SPD nach rechts ab“, andererseits verharmlose er Probleme. Warum, „erschließt sich uns auch nicht“.
Vielleicht, sagt einer, brauche jemand wie Sarrazin „Verhältnisse, die krisenhafter sind als die jetzigen“. Nachdem er jahrelang mit seinen gefürchteten Powerpoint-Folien mahnend und aufrüttelnd durch die hoch verschuldete Stadt gelaufen sei, sei nun die finanzielle Dramatik geschwunden – und die rhetorische übrig geblieben. Linken-Landeschef Klaus Lederer sagt: „Schaden und Nutzen einer solchen Amtsführung kippen ab einem gewissen Punkt um.“
Seine jüngste Hartz-Spitze nun lieferte Sarrazin in einer Fernsehsendung am Dienstagabend. „Ehe jetzt einer im 20. Stock sitzt und den ganzen Tag nur fernsieht, bin ich schon fast erleichtert, wenn er ein bisschen schwarz arbeitet.“ Jetzt, da viele nur darauf warteten, Sarrazin missverstehen zu können, ließen die Reflexe nicht lange auf sich warten. Ein CDU-Mann tönte gleich von „Betrug am Staat“.
Was ist los mit Thilo Sarrazin?
Klar ist nur eins: Es liegt nicht daran, dass dieser spätberufene Politiker disziplinlos wäre und sich nicht unter Kontrolle hätte. Nicht nur den Anzügen, den geschmackvollen Krawatten, der schlanken Figur, der ganzen Haltung merkt man an, dass sich Sarrazin nicht gehen lässt. Man konnte ihm monatelang dabei zusehen, wie er mit enormer Anstrengung und Selbstdisziplin gegen eine Gesichtslähmung ankämpfte, Nebenwirkung einer Operation. Wer ihm öfter zuhört, weiß auch, dass Sarrazin in längeren Ausführungen gerne und oft die Formulierung „ich sach’ mal“ verwendet, während er die richtigen, die passenden, die treffenden Worte sucht. Sarrazins Sprache scheint gelegentlich zu mäandern – aber labern tut er nicht, und er textet niemanden zu.
Als Politiker war Sarrazin ein Segen für Berlin, und wer meint, Klaus Wowereit habe in der Stadt schon als Sonnenkönig angefangen, vergisst, dass Wowereit Sarrazin holte, weil er ihm vermutlich noch mehr finanz- und haushaltspolitische Härte zutraute als sich selbst.
Doch der Regierende Bürgermeister habe ihn nun „zurückgepfiffen“, ist in den Fluren des Abgeordnetenhauses zu hören. Bestätigen will Wowereit das aber nicht. Sarrazin, ach ja, „so ist er“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Dass sich sein Senator fast gleichzeitig für die Sache mit dem Speiseplan entschuldigt hat – in ebenjener Fernsehsendung am Dienstag – und sogleich mit der nächsten Fragwürdigkeit herausplatzt, das „muss man eben zur Kenntnis nehmen“.
Wowereit weiß, was er Sarrazin zu verdanken hat. Und insgeheim stimmt er ihm in einigen Äußerungen wohl auch zu. „Er kriegt auch Beifall, das muss man schon sagen“, sagt Wowereit. „Aber durch die falsche Wortwahl verhindert er, dass in die Inhalte auch Bewegung reinkommt.“ Doch so, wie sich Sarrazin artikuliert, „tut er sich keinen Gefallen.“ Der Regierende Bürgermeister zögert etwas und ergänzt: „Und auch nicht der SPD.“
Jemandem einen Gefallen tun, sich beliebt machen, das scheint nicht die Währung zu sein, die Sarrazin als Aufwandsentschädigung für seinen Job erwartet. Andererseits ist er kein Ideologe – jedenfalls nicht in dem Sinn, dass er die linke Berliner SPD in eine gewisse Richtung treiben wollte mit seinem Widerstand gegen die Hartz-IV-isierung der Sozialpolitik. Vielleicht schätzt dieser Politiker an seinem Amt die Freiheit der Rede – die ja bedeutet, dass sich viele Leute mit seinen Gedanken befassen: Hat er nicht Recht, wenn er sagt, es sei besser, sich zu betätigen als vor der Glotze abzuhängen?
Die Welt des Thilo Sarrazin ist nur teilweise kompatibel mit der Berliner Lebenswelt. Vor Jahren mal hat er über die Berliner gespottet, nirgends sähe man so viele Leute in Trainingsanzügen auf der Straße. Inzwischen ist aus diesen Ursprüngen die Streetwear-Metropole Berlin geworden. Er hat Berliner Beamte verspottet, die bleich und übelriechend über die Flure gingen, weil sie so viel arbeiten müssten. Das sprach schon damals eher für diejenigen, die noch im öffentlichen Dienst beschäftigt sind.
Sarrazin hat auch schon besorgte Eltern, protestierende Studenten, alternde Schauspieler, BVG-Fahrer mit Gehaltserhöhungswünschen, die Brandenburger und die Berliner insgesamt mit sarkastischen oder bösen Bemerkungen bedacht. Doch wer in einer Stadt, die so auf ihr Ansehen in der Welt bedacht ist wie Berlin, den Satz sagt: „Der Schutt ist abgeräumt. Wir leben hier nicht mehr im Jahr 1945, sondern wir leben im Jahr 1947“, der zeigt damit auch, dass er sich durchaus etwas denkt bei seinen Provokationen. Nämlich ein Bewusstsein schaffen zu wollen für echte und vermeintliche Wahrheiten dieser Stadt, und dies mit dem Mittel der Überspitzung.
In der rot-roten Koalition dagegen meinen einige, der Senator beginne, sich zu langweilen, er wolle vielleicht noch woanders etwas werden. Die Rede geht, dass Sarrazin ins Präsidium der Bundesbank gewählt werden wolle. Da hat das Land Berlin das Vorschlagsrecht. Doch die Entscheidung darüber, wer vorgeschlagen wird, soll frühestens im Herbst 2008 fallen. Bis dahin ist jeder, der gern vorgeschlagen werden will, auf Bewährung.
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