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Flucht auf die Kanaren: Ein zweites Moria auf spanischem Boden?
Achtmal mehr Flüchtlinge, doppelt so viele Ertrunkene: Die Kanarischen Inseln sind dabei, der nächste EU-Hotspot zu werden.
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Schafft sich Europa einen neuen Krisenherd? Die Lage auf den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln jedenfalls beginnt der auf den griechischen Inseln zu ähneln. Schon 16 000 Menschen sind in diesem Jahr dort gelandet, die meisten von ihnen seit Oktober. Im vergangenen Jahr waren es gerade eben 2000. Die Unterbringungsmöglichkeiten sind ähnlich unzureichend wie auf Lesbos und deren griechischen Nachbarinseln in der Ägäis. Auch die Werkzeuge, mit denen die EU auf den neuen Hotspot reagiert, scheinen die gleichen.
„Im Fall der Kanaren zeigen sich wieder sämtliche Schwächen der europäischen Abschottungspolitik“, sagt Michel Brandt, Obmann der Linken im Bundestagsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Wie bei der Internierung auf den griechischen Inseln sollen auch dort jetzt 2000 Menschen in einem Lager untergebracht werden, das nur für 400 ausgelegt ist. Um des Abschreckungseffekts willen, den es schon im Fall Griechenland nicht gab, will man die Leute auf keinen Fall aufs spanische Festland lassen. „Sie sollen bis zum Abschluss rechtsstaatlicher Verfahren auf den Inseln bleiben. Aber das kann Jahre dauern“, sagt Brandt.
Die Lage bleibt beherrschbar, meinen die UN
Nicht zuletzt sammle sich auch auf den Kanaren sozialer Sprengstoff an. Die Tourismusbranche sei durch die Covid-Pandemie auf Null, viele arbeitslose Angestellte hätten ihre Wohnungen verloren und kampierten in ihren Autos. Und weil die Behörden die Geflüchteten in ihrer Not in den leerstehenden Hotelanlagen unterbrächten, wachse die Wut der Einheimischen.
Über die Lage auf den Kanaren informierten sich die Migrationsorganisation der Vereinten Nationen IOM und das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge in der vergangenen Woche bei einem Besuch, sprachen mit Behörden und Organisation der Zivilgesellschaft. Nach UN-Erkenntnissen stammten die meisten der etwa 16 000 Flüchtlingen auf den Inseln in diesem Jahr aus Ländern Westafrikas. Einige seien aus der unsicheren Sahelzone geflohen. „Die Folgen der Covid-19-Pandemie, eine prekäre Ernährungssituation und der Klimawandel sind weitere Faktoren der Entwicklung“, hieß es in einer Erklärung von IOM und UNHCR zu Beginn der Mission. Obwohl die Zahlen gestiegen seien, werde die Lage aber „durch Solidarität und eine auf Menschenrechten aufbauende Politik beherrschbar bleiben“, heißt es zuversichtlich in der Erklärung.
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Für die Totenzahlen gilt das nicht. IOM zeigte sich Ende vergangener Woche besorgt über deren Anstieg. Die 500 bisher gezählten Toten, die meisten im Oktober und November, seien bereits mehr als doppelt so viele wie 2019, als die Organisation 210 Opfer der Überfahrten zählte. Das sei aber vermutlich nur ein Teil der tatsächlichen Verluste von Leben. Es werde immer schwieriger, Daten auf der Westafrikaroute zu sammeln, „besonders wenn wir Berichte über spurlos verschwundene Boote erhalten“, so Frank Laczko, der Chef der GMDAC, der Datenanalyse-Einheit der Organisation.
Vor zehn Tagen der jüngste Schiffbruch
Die vorerst letzte Havarie verzeichnete IOM am 15. November vor der Küste der Kapverden, wo 66 Menschen, darunter drei Kinder, aus ihrem beschädigten Boot aufgenommen wurden. Nach Angaben der Überlebenden und Erkenntnissen der kapverdischen Behörden waren aber 130 mit dem Boot aufgebrochen. Sie stammten bis auf drei Menschen aus Gambia alle aus dem Senegal.
Auf den Kanarischen Inseln, sagt Menschenrechtspolitiker Brandt, zeichne sich gerade ab, dass „die EU trotz negativer Erfahrungen ihre längst bekannten Probleme noch vergrößert“. Nicht nur wiederhole sie die Fehler, die schon mit den griechischen Inseln gemacht wurden und werden. Es zeige sich auch, dass die Politik vorverlagerter Grenzen, etwa durch die Bewaffnung und Grenzschutzfinanzierung für nordafrikanische Staaten, nicht funktioniere. Die EU-Grenzschutzpolitik mache Migration „ nur immer schwerer und gefährlicher. Die Leute suchen sich neue Routen und gehen noch riskantere Wege“.
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