
© Joseph Prezioso/AFP
Twenty/Twenty täglich – Heute ist US-Wahltag: Eine Wahl, der man nicht entkommen kann
Diese Wahl ist ein großer Test für die Funktionsfähigkeit der liberalen Demokratie – und die Stimmung ist angespannt. Unser US-Newsletter, jetzt täglich.
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Heute ist Wahltag. Wir informieren sie natürlich auch heute in unserem US-Newsletter „Twenty/Twenty“ über die Geschehnisse in den Vereinigten Staaten. Heute schreibt Anna Sauerbrey über den Endspurt von Trump und Biden, über Umfragen und Stimmungen – und über eine Wahl, die in alle Ritzen des Alltags gekrochen ist. Zum kostenlosen Abo geht es hier.
Der Wahltag in Amerika ist gekommen. Er ist, einerseits, ein Einschnitt. Ein großer Testtag für die Funktionsfähigkeit der liberalen Demokratie. Entscheidend für die transatlantischen Beziehungen und den Multilateralismus. Und dann doch auch nur ein Tag inmitten eines langen (manche hier in den USA finden: quälend langen) Prozesses. Seit Wochen schon wird gewählt. Stand Montagabend haben bereits 100 Millionen Amerikaner ihre Stimme abgegeben. 2016 gingen überhaupt nur 136 Millionen zur Wahl – von rund 240 Millionen Wahlberechtigten. In vielen Staaten wird schon ausgezählt.
Ein endgültiges Ergebnis wird auch die Wahlnacht nicht bringen. Die wichtigen Staaten Ohio, Wisconsin, Iowa, Michigan und Pennsylvania erwarten – wegen des hohen Briefwahlaufkommens und weil sie die Stimmen erst ab dem Wahltag zählen dürfen – ein verlässliches Ergebnis erst mehrere Tage nach dem 3. November. Und natürlich würde auch ein Sieg Bidens keine politische Wunderheilung bewirken, sondern wäre nur wieder der Anfang von etwas. Die Fixierung auf den Wahltag ist also künstlich, aber psychologisch wichtig. Diese Wahl ist in alle Ritzen des Alltags gekrochen, man kann ihr kaum entkommen – und viele haben es satt.
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Den Montagvormittag habe ich in einem der nördlichen Vororte von Pittsburgh im Westen von Pennsylvania verbracht. Nach einer Recherche habe ich am Sonntagabend einen kurzen Abstecher zu meiner ehemaligen Gastfamilie gemacht, ich war 1996/97 als Austauschschülerin hier. Während ich am Küchentisch an einem Text schrieb, klingelte alle halbe Stunde das Telefon. Mein Gastvater, der sich im Wohnzimmer nach der Frühschicht etwas ausruhte, ließ jedes Mal den Anrufbeantworter drangehen. „Hallo“, sagte seine Stimme vom Band. „Sie sind wahrscheinlich ein Spam-Anrufer. Deshalb gehen wir nicht ans Telefon. Falls nicht, hinterlassen Sie bitte eine Nachricht. Wir rufen Sie zurück.“
Tatsächlich sind drei von vier Anrufen Wahlkampfanrufe. „Retten Sie Leben, wählen Sie Donald Trump“, bittet eine Frauenstimme, die für eine Gruppe von Abtreibungsgegnern anruft. Mein Gastvater kommt mit einer Kaffeetasse in die Küche und grinst. „Ich hatte erst eine viel fiesere Ansage“, sagt er mit sichtlicher Genugtuung. Aber meine Gastmutter hat darauf bestanden, dass er die wieder löscht. Von Freitag bis Sonntag hatte ich hier – ganz im Westen des Staates – versucht, im Gespräch mit Arbeitern, Umweltaktivisten und Gewerkschaftern ein Gespür dafür zu bekommen, wie wichtig das Thema Fracking für die Menschen ist (das Rechercheergebnis können Sie hier nachlesen). Trump hat zuletzt bei mehreren Wahlkampfveranstaltungen in Pennsylvania stark darauf gesetzt und Werbespots zum Thema geschaltet.
Pennsylvania könnte die Wahl entscheiden
Pennsylvania könnte die Wahl entscheiden. Trump muss den Staat gewinnen, will er noch einmal Präsident werden. Für Biden wird er vor allem dann wichtig, sollte er Florida verlieren (und dort lag er in den letzten Umfragen nur einen Prozentpunkt vorn, faktisch also ein Patt). Beide Kandidaten sind deshalb am Vortag der Wahl noch einmal hier aufgetreten. Joe Biden trat bei einer Drive-in-Rallye auf dem Heinz Field auf, dem Football-Stadion von Pittsburgh, an seiner Seite waren seine Frau Jill Biden und Stargast Lady Gaga. Das westliche Pennsylvania sei sein erster Wahlkampfstopp gewesen, sagt Biden, nun sei es auch sein letzter. „Denn Sie hier repräsentieren das Rückgrat unseres Landes: hart arbeitende Familien“.
Auch Trump trat am Montag unter anderem noch einmal in Pennsylvania auf, in Luzerne County im Nordosten, einer Kohleabbauregion. Luzerne County ist eines jener Counties, die Trump 2016 überraschend gewann und die dazu beitrugen, dass er am Ende den ganzen Staat gewinnen konnte. Es ist eines jener Counties, die es lohnt, am Wahlabend im Auge zu behalten. Weitere Hinweise für den Ablauf des Wahlabends und worauf es sich zu achten lohnt, finden Sie hier in unserer Handreichung.
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In Luzerne wiederholte Trump seine Behauptung, Biden wolle Fracking verbieten. Trump trat außerdem in Michigan, North Carolina und Wisconsin auf – auch das Hinweise darauf, welche Staaten sein Wahlkampfteam besonders wichtig nimmt. Trump wiederholte am Montag auch seine Überzeugung, es sei falsch, Briefwahlstimmen noch nach dem eigentlichen Wahltag auszuzählen. Auf Twitter schrieb er, das Urteil des Obersten Gerichts, das es für Pennsylvania zunächst zugelassen hat, Briefwahlstimmen noch bis zum 6. November zu öffnen und zu zählen, könne „zu Gewalt in den Straßen führen“. Twitter löschte den Tweet mit Verweis auf seine „Richtlinien zur Integrität staatsbürgerlicher Prozesse“.
In Pennsylvania hatten die Republikaner gegen die Regel geklagt. Ein vergleichbarer Rechtsstreit um die Gültigkeit von Briefwahlstimmen in Texas zog sich noch bis in den Montag hin, aber auch in Texas hatten die Republikaner keinen Erfolg. Ein Richter des Bundesstaates erklärte, Briefwahlstimmen, die an „Drive-thru“-Stellen abgegeben wurden, seien gültig. Am Sonntag hatte auch der oberste Gerichtshof von Texas in einem ähnlichen Fall genauso entschieden – obwohl das Gericht nur mit Republikanern besetzt ist.
Biden liegt weiter vorne – allerdings mit weniger großem Abstand
Im Durchschnitt der letzten Umfragen lag Biden weiter vorn – der Abstand verringerte sich allerdings besonders in wichtigen Swing-States. In Florida lag er bei 1,8 Prozentpunkten, in Pennsylvania bei 2,6 Prozentpunkten, in Michigan bei 5,1 und in Wisconsin bei 6,7. In den nationalen Umfragen hat Biden einen Vorsprung von 6,7 Punkten. Auch das Virus hat einen Vorsprung vor den Menschen. Die vom Weißen Haus berufene Epidemie-Expertin Deborah Birx warnte am Montag eindringlich, das Land sei gerade dabei, in die „besorgniserregendste und tödlichste Phase der Pandemie einzutreten“. Sie widersprach damit direkt dem Präsidenten, der behauptet hatte, die Kurve „ist flach oder sinkt“ und man habe „die Wende geschafft“.
Inzwischen bin ich wieder in Philadelphia angekommen, wo ich den Wahltag verbringen will. Wie Juliane Schäuble gestern schon aus Washington berichtet hat, liegt auch über Philadelphia eine unwirkliche, angespannte Stimmung. In der Innenstadt hatten schon während der Unruhen der vergangenen Woche, als ein schwarzer Mann von einem Polizisten erschossen worden war, viele Geschäfte ihre Schaufenster vernagelt. Zum Wahltag sind es noch einmal mehr geworden. Die Polizei ist sehr präsent. Fahrradpolizisten patrouillieren durch die Straßen. Vor einer Bank im Zentrum stehen am Abend Polizisten in Kampfmontur. An einigen Straßenecken stehen Absperrgitter bereit.
Die Nationalgarde hält sich bereit
Amerikanische Medien berichten von ähnlichen Szenen auch aus anderen Großstädten. Die Nationalgarde hält sich bereit. Die Gouverneurin von Oregon hat schon jetzt für den Großraum Portland den Notstand ausgerufen – hier war es bei Demonstrationen gegen Polizeigewalt zuletzt zu schweren Ausschreitungen gekommen.
Damit verabschiede ich mich für heute. Am Mittwochvormittag wird es wohl noch keinen endgültigen Sieger geben – aber wir werden viel mehr wissen. Juliane Schäuble wird sich dann an dieser Stelle mit einer ersten Einschätzung der Lage bei Ihnen melden.
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