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Kanzlerin Angela Merkel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.

© Ahmed Deeb,dpa

Erdogan droht mit Hunderttausenden Flüchtlingen: Europa ist Opfer der eigenen Passivität

Europa hat Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle. Das Problem dabei ist nicht die Türkei – die EU hat einfach keine gute Asylpolitik. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Ist Europa das Opfer einer türkischen und russischen Politik, die Furcht vor einer ungeregelten Massenmigration als Mittel der Erpressung einsetzt? Warnungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, sein Land werde möglicherweise „die Tore öffnen“ und Hunderttausende Flüchtlinge nach Europa schicken, haben diesen Eindruck verstärkt.

Der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag in Istanbul wurde von der Furcht der Europäer geprägt. Doch wenn die Europäer überhaupt Opfer sind, dann sind sie Opfer der eigenen Passivität.

Das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU von 2016 gibt der Türkei zwar die Möglichkeit, den Europäern mit dem Aufkündigen zu drohen und Angst einzujagen. Die Warnungen aus Ankara sind aber kein Selbstzweck.

Die Türkei braucht tatsächlich Hilfe der EU – schließlich versorgt das Land seit Jahren mehrere Millionen Menschen. Das ist „eine Leistung, die gar nicht hoch genug geschätzt werden kann und Dank und Anerkennung verdient“, wie Merkel am Freitag in Istanbul völlig zu Recht sagte.

Die Türkei leidet sehr unter dem Konflikt beim Nachbarn. Dass Erdogan mit seiner verfehlten Syrien-Politik dafür mitverantwortlich ist, ändert nichts an der Lage. Anders als europäische Staaten hielt die Türkei ihre Grenzen sehr lange offen, um Syrer aufzunehmen. Nun versucht Erdogan, die Europäer wachzurütteln, und das kann man ihm angesichts der Geht-mich-nichts-an-Haltung Europas nicht verdenken. Türkische Politiker haben die Erfahrung gemacht, dass sie rhetorisch gehörig auf die Pauke hauen müssen, um in Europa gehört zu werden.

Brüssel möchte sich offenbar am liebsten freikaufen

So mutierten die Türken in den Augen vieler Europäer plötzlich zu Bösewichtern, weil sie die Last nicht alleine tragen wollten. Brüssel erweckte unterdessen den Eindruck, sich mit Geld von der Verantwortung freikaufen und ansonsten in Ruhe gelassen werden zu wollen.

Die EU hätte viele Probleme vermeiden können, wenn sie früher – und freiwillig – gehandelt hätte. Doch die schwierige Frage nach dem Umgang mit dem syrischen Regime blieb unbeantwortet. Europa habe die Fähigkeit, den Syrien-Konflikt zu ignorieren, zur Perfektion gebracht, sagte Thorsten Benner, Direktor der Denkfabrik GPPI in Berlin, im vergangenen Jahr. Wenn es die Krise dann einmal auf die Titelseiten der Zeitungen schafft, reagiert Europa mit Panik und halbgaren Vorschlägen wie einem Schutzzonen-Plan, von dem niemand weiß, wie er umgesetzt werden soll.

Eine einheitliche Asylpolitik gibt es dagegen bis heute nicht. Wenn Europa nun Angst vor der nächsten Flüchtlingswelle hat, liegt das weniger an der Türkei oder an Russland, sondern daran, dass die EU immer noch nicht weiß, wie sie mit Schutzsuchenden umgehen soll.

Versagen auch in Libyen

In Libyen hat Europa ähnlich versagt. Zuerst wirkten viele EU-Staaten am Sturz von Muammar Gaddafi mit, dann überließen sie das Land seinem Schicksal und wachten erst auf, als die ersten Flüchtlingsboote ankamen.

Im Konflikt zwischen der libyschen Einheitsregierung und dem Rebellengeneral Haftar bekamen sich dann die EU-Mitglieder Italien und Frankreich in die Haare, weil sie den jeweils anderen als Rivalen um Macht und Öl in Libyen betrachteten. Kein Wunder, dass Europa in Libyen ins Hintertreffen geraten ist. Russland und die Türkei können nur deshalb Druck auf die EU machen, weil die Europäer das zulassen.

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