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Ministerpräsident Erdogan steht nach dem Grubenunglück erneut in der Kritik.

© dpa

Update

Türkei: Erdogan soll 15-jähriges Mädchen geschlagen haben

Nach dem Grubenunglück in der Türkei scheinen die Nerven auch bei Erdogan blank zu liegen. Bei einem Besuch in Soma soll der Ministerpräsident Berichten zufolge zwei Menschen tätlich angegriffen haben. In Soma ist die Polizei unterdessen mit Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat bei seinem Besuch an der Unglücksgrube im westtürkischen Soma laut Medienberichten vor Wut auf angebliche Demonstranten die 15-jährige Tochter eines getöteten Bergmanns und einen Mann physisch angegriffen. Die mutmaßliche Gewalt steigerte die Empörung unter Erdogan-Gegnern im Land. Am Ort des Bergwerksunglücks in Soma ist die Polizei mit Tränengas gegen tausende Demonstranten. vorgegangen. Die Sicherheitskräfte feuerten am Freitag Tränengas und Gummimantelgeschosse auf die rund 10.000 Protestierenden, die den Rücktritt der Regierung forderten, wie ein AFP-Reporter berichtete.

Auch die erste ausführliche Stellungnahme des Betreibers der Kohlegrube von Soma, wo am Dienstag mindestens 284 Bergleute ums Leben kamen, sorgte für Ärger: Das Unternehmen räumte am Freitag zwar ein, dass es unter Tage keine Schutzräume für die Arbeiter gab, betonte aber, es habe sich keinerlei Verfehlungen zuschulden kommen lassen. Festnahmen gab es nicht.

In Soma warf eine Augenzeugin, die ihren Namen laut einem Bericht der linksgerichteten Tageszeitung „Evrensel“ mit den Initialen G.K. angab, dem 60-jährigen Erdogan vor, ein 15-jähriges Mädchen mit der Faust ins Gesicht geschlagen zu haben. Das Mädchen, Tochter eines getöteten Bergmanns, habe beim Anblick des Ministerpräsidenten ausgerufen: „Was will der Mörder meines Vaters hier?“ Darauf habe Erdogan mehrmals zugeschlagen. „Was ist das für ein Hass, wenn ein Ministerpräsident so etwas tut“, sagte die Frau weiter.

Der angebliche Vorfall trug sich zu, als Erdogan bei dem Besuch am Mittwoch wegen heftiger Proteste von Demonstranten in Soma aus einem Dienstwagen ausstieg und in einem Supermarkt Zuflucht suchte. An dem Markt mit dem Namen „Grüne Orange“ sei Erdogan auf das Mädchen losgegangen und habe mehrfach zugeschlagen, sagte eine Zeugin laut der Zeitung. Mehrere Zeuginnen hätten aus Angst vor Repressalien ihren Namen nicht nennen wollen.

Antisemitische Beleidigungen gegen Bergmann

Ebenfalls vor der „Grünen Orange“ soll der Premier einen unbeteiligten Bergmann namens Taner Kuruca geschlagen haben. Laut einigen Berichten soll Erdogan das Opfer als „Ausgeburt Israels“ bezeichnet haben.

Kuruca sagte der Zeitung „Radikal“, er sei nur zufällig an dem Supermarkt vorbei gekommen. „Als er [Erdogan] zu dem Markt kam, hielt er mich für einen Demonstranten und langte mir eine.“ Anschließend sei er von Leibwächtern Erdogans verprügelt worden, sagte Kuruca. Auf eine Strafanzeige will er aber verzichten. Möglicherweise hat auch er Angst. Erdogan habe die Schläge sicher nicht gewollt, sagte Kuruca. Der prominente Journalist Can Dündar warf Erdogan vor, sich mit den Schlägen gegen das eigene Volk gestellt zu haben. „Dieser Faustschlag galt uns allen“, kritisierte er auf Twitter.

Es ist nicht das erste Mal, dass Erdogan vorgeworfen wird, gegen unliebsame Zeitgenossen mit Gewalt vorgegangen zu sein. Im Jahr 2009 soll er im westtürkischen Aydin einen damals 13-jährigen Jungen am Nacken gepackt haben, weil dieser Parolen gegen die Regierung gerufen hatte.

Bei Erdogans Besuch in Soma hatte ein Berater des Ministerpräsidenten, Yusuf Yerkel, einen am Boden liegenden Demonstranten mehrfach getreten. Yerkel erklärte, er bedauere es, dass er sich angesichts von Beleidigungen und Provokationen von Regierungsgegnern nicht besser im Griff gehabt hätte.

Hüseyin Celik, Sprecher von Erdogans Regierungspartei AKP, sagte zu den Vowürfen, Erdogan sei auf Passanten losgegangen, auch er habe die Videos von dem angeblichen Vorfall gesehen, doch seien diese nicht klar. Kurucan „oder eine andere Person“ habe Anschuldigungen gegen Erdogan erhoben, aber „es gibt keine Bilder davon“. Zu den Tritten des Erdogan-Beraters Yerken sagte der Parteisprecher, Yerken habe angegeben, von dem am Boden liegenden Demonstranten angegriffen worden zu sein. Yerken ließ sich unterdessen wegen den angeblich erlittenen Verletzungen für eine Woche krankschreiben.

Keine Schutzräume in Bergwerk

Energieminister Taner Yildiz sagte in Soma, die Gesamtzahl der Toten werde vermutlich über 300 steigen. Nach seinen Worten wurden am Freitag noch 18 Arbeiter vermisst. Augenzeugen in Soma hatten von wesentlich mehr Arbeitern gesprochen. Der regierungskritische Journalist Mehmet Baransu warf der Regierung auf Twitter vor, die wahren Opferzahl zu verschleiern. Die Oppositionspartei CHP sprach von 500 bis 600 Toten.

Nach Angaben der Betreiberfirma Suma Holding hielten sich zum Zeitpunkt des Unglücks am Dienstagnachmittag 787 Arbeiter in der Grube auf. Firmenchef Alp Gürkan räumte am Freitag zudem vor der Presse ein, dass es im Bergwerk keine Schutzräume für die Arbeiter gab. Ein solcher Raum hätte ohnehin nichts genützt, sagte Geschäftsführer Ramazan Dogru. Dagegen berichteten türkische Zeitungen unter Berufung auf Experten, mit einer Investition von einigen Millionen Euro hätten Schutzräume installiert werden können, die allen in Soma getöteten Bergleuten das Leben gerettet hätten.

Dogru sagte auch, nach seinen Erkenntnissen sei das Unglück nicht durch die Explosion in einem Trafo in der Grube ausgelöst worden wie bisher angenommen. Vielmehr sei in einiger Entfernung von dem Trafo aus bislang unbekannten Gründen ein Feuer ausgebrochen. Grubendirektor Akin Celik betonte, es habe „keinerlei Verfehlungen“ des Unternehmens gegeben. Erdogan hatte das Unglück als im Bergbausektor unvermeidlich bezeichnet. (mit AFP)

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