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Die britische Premierministerin Theresa May auf dem Weg von 10 Downing Street zur Abstimmung im Unterhaus über das Brexit-Abkommen.

© Frank Augstein/AP/dpa

Nach der Brexit-Abstimmung im Unterhaus: Ernstfall Demokratie: Fünf Lehren aus dem Brexit-Debakel

Es gibt fünf Phasen der Trauer: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Wo stehen die Briten jetzt - und wo steht die EU? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ein Zitat vorweg. „Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam“, sagt Shakespeares Hamlet, und der Vers klingt, als stünde er im Tagebuch von Theresa May. Etwas anderes sagt Hamlet noch: „Abschied ist solch bitter-süßer Schmerz.“

Aus der herben Niederlage für Mays EU-Austrittspläne und der Zeit seit dem 23. Juni 2016 lassen sich fünf Lehren ziehen. An diesem Tag beschlossen die Wähler Großbritanniens mit knapper Mehrheit, dass ihr Land aus der Europäischen Union austreten soll. Die Wochen und Monate danach verliefen turbulent, chaotisch, dramatisch.

Lehre Nummer eins: Mit der Demokratie ist nicht zu spaßen. Sie legitimiert die soziale Ordnung, sie überträgt Macht und Souveränität vom Volk auf dessen Repräsentanten. Ergebnisse demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse – ob bei Wahlen oder Referenden – drücken den verbindlichen Willen der Bürger aus. Deshalb müssen sie sowohl von den Regierenden als auch den Regierten respektiert werden. Sollte es ein zweites Referendum über den Brexit geben? „Wenn wir das tun, werden die Menschen anfangen, den Wert der Demokratie infrage zu stellen“, sagt May. Viele Briten warnen bereits vor einem „Brexit Betrayal“, einem Brexit-Betrug.

Lehre Nummer zwei: Wer seine Stimme abgibt, übernimmt ein hohes Maß an Verantwortung. Das Votum sollte frei sein von momentanen Launen, von Trotz-, Übermuts- oder Denkzettel-Motiven. Jede Stimme zählt und kann gravierende Folgen haben. Der Brexit war eine solche Folge ebenso wie die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Es ehrt sowohl die britische als auch die amerikanische Opposition, das jeweilige Resultat trotz diverser verfahrenstechnischer Einwände – Wählermanipulation durch Lügenpropaganda, Facebook, Russen – akzeptiert zu haben. Die Erfolge der Brexiteers und Trumpisten sollten nicht zu einer Delegitimierung der Demokratie an sich führen.

Die EU darf sich nicht klein machen

Lehre Nummer drei: Europa versteht sich nicht von selbst. Der Austritt Großbritanniens aus der EU, ob geregelt oder ungeregelt, ist auch eine Absage an Hurra-Europäismus, an Pathos, Bürokratie, Ignoranz und Schönrednerei. Zum schlechten Image der EU in den vergangenen Jahren hat sie selbst mit beigetragen. Die Schlagzeilen wurden beherrscht von Begriffen wie Eurokrise, Arbeitslosigkeit, Reformdruck, Sparprogramm, Verschuldung, Streit über Flüchtlingsverteilung. Wann immer sich die Oberhäupter der Mitgliedsstaaten zum Gipfel trafen, war es ein Krisen-Gipfel, der meist in den frühen Morgenstunden mit mühsam ausgehandelten Kompromissen endete.

Lehre Nummer vier: Europa muss neu erzählt werden. Die Begründungen für eine europäische Einigung durch Weltkriegserfahrungen und dem sich daraus ableitenden Friedenswunsch tragen nicht mehr. Es muss gelingen, das derzeit noch von 28 Ländern und mehr als 500 Millionen Menschen getragene Projekt frohgemut, pragmatisch und visionär zu erklären. Dazu gehört eine Besinnung auf die gemeinsamen historischen Prägungen – Antike, Römisches Reich, Renaissance und Reformation, Aufklärung und Parlamentarismus – wie auf die aus diesen Prägungen hervorgegangenen Werte – Freiheit, Emanzipation, Individualismus, Menschenrechte, Völkerrecht, Klimaschutz, Multilateralismus, Toleranz.

Lehre Nummer fünf: Die EU darf sich nicht klein machen. Der Austritt Großbritanniens ist zwar traurig, aber zu verkraften. Mehr Selbstbewusstsein tut Not statt ängstlich vorgetragener Bitten um einen Verbleib. Wer will schon Mitglied in einem so verzagten Club sein? Eine knappe Mehrheit der Briten hat sich aus zum Teil nachvollziehbaren Gründen für das Falsche entschieden. Wie sie diese Entscheidung nun umsetzen wollen, steht seit dem Abstimmungsergebnis im Unterhaus in den Sternen. Doch es ist an der Zeit, die Entscheidung als solche zu akzeptieren. Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross unterschied fünf Phasen der Trauer: Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Am Ende dieser Phasen steht die Einsicht, dass das Leben weitergeht, auch in Europa.

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