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Politik: Es geht uns gut

Generation Golf? Die Wohlstandskinder der Sechziger- und Siebzigerjahre erfinden sich neu – als „Kriegsenkel“.

Als das Stichwort von der „Generation Golf“ durch die Feuilletons geisterte, dachte ich ergeben: Okay, meinetwegen nennt mich so, äußerlich passt das schon: aufgewachsen in den Siebzigerjahren, am Rand einer Universitätsstadt in einem Haus mit alten Bäumen und wohlmeinenden Eltern, die mich nach der Schule zum Schwimmen, zum Klavierunterricht und später sogar in die Disco kutschierten. Sie kauften mir einen Hund, ein Rennrad, ich durfte Freunde einladen, wann immer ich wollte. Meine Mutter sagte mir, dass ich das Wichtigste in ihrem Leben sei. Es war eine mustergültige Kindheit, wie sie Hunderttausende in dieser Zeit verlebten.

Nur mit mir schien irgendetwas nicht zu stimmen, einsam und melancholisch, wie ich mich fühlte, ohne dass es dafür einen Anlass zu geben schien. Äußerlich tat ich das, was auch die anderen aus der Stadtrandsiedlung taten: weit weg ziehen. Das Abenteuer suchen. Doch die Leerstelle blieb.

An meinem 42. Geburtstag stand ich in Berlin mit drei Reporterkollegen auf dem Balkon meiner Wohnung. „Wo geht’s denn als Nächstes hin?“, fragten sie mich. „Bosnien“, sagte ich knapp – für längere Sätze fühlte ich mich bereits zu betrunken. Doch das reichte den Kollegen als Stichwort für einen kleinen Leistungsvergleich. „Ach, da war ich vor 17 Jahren! Srebrenica“, sagte der eine. „Ich sag euch: Das war das Grauen!“ – „Na, Grosny war aber auch kein Sonntagsausflug!“, fiel der zweite ein. „Die ganze Bevölkerung war traumatisiert!“ Sie blickten auf den dritten, der lässig an der Balkonbrüstung lehnte. „Tja, was soll ich sagen?“, begann er und ließ ein paar Sekunden verstreichen. „Ich komme grad aus Homs ...“ Es war klar – er hatte gewonnen. Gönnerhaft klopfte er mir auf die Schulter, „und, wie läuft dein Tschernobyl-Buch?“

Ich dachte zurück an die Monate in Weißrussland, an die Geisterdörfer, den Wald, der die Stadt Tschernobyl überwucherte wie ein Dornröschenreich. An den tadschikischen Bürgerkriegsflüchtling, der sich in einem Haus in der Sperrzone einquartiert hatte und erzählte, dass er sich nichts sehnlicher wünsche als ein kleines Mädchen, das mit ihm an der Hand über die Dorfstraße gehen würde. „Männer, die aus dem Krieg kommen, wünschen sich ein Mädchen.“ Ich dachte an die Frau, die vor mir auf die Knie gefallen war, als ich sagte, dass ich in Deutschland Geld für die Chemotherapie ihres Sohnes sammeln würde – und daran, dass die Kollegen sicher Schlimmeres gesehen hatten.

Da gurgelte es plötzlich in meiner Kehle, und heraus brach ein Geheul, wie ich es bisher nur von Kindern kannte: laut, gellend, abgrundtief verzweifelt. „Na, sie war halt ziemlich dicht dran an den Leuten da in Tschernobyl“, murmelte ein Kollege betreten.

Doch es waren nicht die Bilder aus Tschernobyl, die mir durch den Kopf zuckten, während ich mir den Schmerz aus dem Leib schrie. Es war das Bild eines Jungen, der vergeblich gegen eine Tür hämmert, während um ihn herum die Bomben einschlagen. Das Bild meines Vaters, eines Flüchtlingsjungen, der zu einem Mann wurde, den die Einsamkeit umhüllte wie ein Grabtuch.

Mein Vater hat mit mir nie über den Krieg geredet. Nichts hat er erzählt außer der Geschichte von Wölfchen, seinem Foxterrier, den er jaulend zurücklassen musste. Aber ich habe auch nicht weiter nachgehakt. Mir genügte das, was meine Mutter mir gesagt hatte: dass ihnen nichts wirklich Schlimmes passiert sei im Krieg. In der Schule hatten wir jahrelang über „die Zeit der NS-Verbrechen“ geredet. Eine Zeit, die mit meiner Familie nichts zu tun zu haben schien. Schließlich hatten wir ja keine „NS-Verbrecher“ in der Familie. Von den Großeltern hieß es, sie seien Sozialdemokraten gewesen, und dazu noch engagiert in der Kirche. Mehr brauchte ich nicht zur Beruhigung. Schließlich ging es ja um Schuld.

Ich war nicht unpolitisch, ich hatte Hunderte von Büchern über den Krieg gelesen, mit Freunden über den Historikerstreit diskutiert, war in Dachau, in Wolgograd, im Jüdischen Museum in Washington. Doch der Krieg blieb für mich eine Ansammlung von Daten, Theorien und Anekdoten in meinem Gehirn.

Ein Abstraktum.

Und jetzt war er mir auf einmal ganz nah gekommen, steckte in meinem Körper. Ich fragte mich, wie das sein konnte – und wie das mit der Schreibblockade zusammenhing, die mich seit meiner letzten Reportage plagte. Ein Freund drückte mir zwei Bücher der Kölner Journalistin Sabine Bode in die Hand. Dabei murmelte er verlegen: „Dass der Krieg über Generationen in uns drinsteckt, hätte ich selbst als Pazifist nicht gedacht!“

In den Büchern stieß ich auf ein Wort, das mir einen Schauder über den Rücken jagte: Kriegsenkel. Verdammt, das war ja ich! Nervös kämpfte ich mich durch die Geschichten von Familien, die meiner bis hin zum Billy-Regalaufsatz glichen, las von „transgenerationalen Traumata“, von Gewalterfahrungen und Hilflosigkeitsgefühlen, die unbewusst weitergegeben würden, von den Enkeln, die in heilen Vorstadtwelten die Panik überfiel.

Hängen blieb bei mir nach dieser ersten hektischen Lektüre vor allem eins: dass ich nicht allein war mit dem Gefühl, dass mit mir etwas nicht stimmte; dass nicht wenige aus dieser als so konturlos beschriebenen Golf-Generation mit diesem Gefühl groß geworden waren. Eine Frau aus dem Buch sprach von einem „Nebel“, der sie zu umgeben schien, ein Mann von einer „grauen Soße“, ein anderer von einer „Verwirrung“, die es ihm unmöglich mache, sich langfristig auf etwas festzulegen – weder auf einen Beruf noch auf einen Partner; auf keine Wohnung, kein Land und keine Sprache.

Und so machte ich mich auf, sie kennenzulernen, die anderen Kriegsenkel, denen die Buchautorin eine besondere Fähigkeit zugeschrieben hatte: sich zu vernetzen. Ich traf sie in einer Facebook- Gruppe, einem Internetforum, in Kneipen, Seminarhäusern, Selbsthilfegruppen. Sogar einen Verein hatten sie gegründet, „Kriegsenkel e. V.“.

Ein Kollege ermahnte mich, ich solle mich fragen, ob ich nicht einem Psychotrend hinterherrenne. Als ich mich zwei Tage später, Ende März, in Göttingen zu einer Tagung mit dem Titel „Die Kinder der Kriegskinder“ anmeldete, zweifelte ich an mir selbst.

Immerhin ist die Universität der Gastgeber, beschwichtigte ich mich, die Referenten kommen aus den verschiedensten Disziplinen und das Programm klingt ziemlich akademisch: „Entlastung – Abgrenzung – Verständigung. Modell der Vergangenheitsbewältigung in deutschsprachigen Generationsromanen“, stand da auf der Tagesordnung, „Destruktive Implantate des Kriegs – Schmerz, Aggression und Abwehr“ oder „Abschied vom Opferland – Wie können transgenerationale Traumatisierungen überwunden werden?“

Die Tagung begann mit einem autobiografischen Text von Anja Röhl, einer Tochter des Publizisten Klaus Rainer Röhl (dem späteren Ehemann von Ulrike Meinhof), die gegen ihren Vater vor zwei Jahren heftige Missbrauchsvorwürfe erhoben hatte. In ihrem Göttinger Text ging es vor allem um Wut. Echte Wut, die uns entgegensprang wie ein gereizter Grizzly.

Es begann mit Röhls Ankündigung, die Eltern zu „Studienobjekten für die Charakterverbiegung von Kindern durch die besondere Erziehung zum Krieg“ zu machen, für die unbewussten Verarbeitungsstrategien nach seinem Ende – die in diesem Fall in einen geradezu messianischen Antiautoritarismus mündeten. Und es endete mit der Klage, dass „sie sich ein falsches Bild von mir machten, sie meinten, ich wisse nicht zu schätzen, wie viel Freiheit sie mir ließen, ich sei überempfindlich und respektlos. Womit dann der Gipfel an Entfremdung zwischen uns erreicht war, denn immer nur hatte ich sie geliebt und nichts anderes gewollt als wiedergeliebt zu werden, vorbehaltlos, ihnen alles zu verzeihen, sie zu trösten und zu umarmen, wie sie es wollten, war dazu aber immer weniger in der Lage, sondern nur noch dazu, mich abzuwenden.“

Um mich herum wurden Taschentücher gezückt. Eine Unikonferenz, die einen Haufen verkopfter Menschen zu Tränen rührt? Die Ursache für diesen kollektiven Ausbruch erkannte ich erst ein paar Vorträge später: dass die meisten diese Klage teilten. Dass sie, wie die Psychologin und Traumatherapeutin Bettina Alberti es in ihrem Referat aufzeigte, so etwas wie eine Generationenklage war, die „psychischen Themen“ der Kriegsenkel, die sie schlagwortartig zusammengefasst hatte. Ad eins: „Der Verlust des emotionalen Zugangs zu den familiären Wurzeln mit zuweilen Angst vor der familiären Vergangenheit.“ Ad zwei: „Familiendynamische Aufträge, seelische Verletzungen der Elterngeneration zu heilen.“

All das, was die Vorredner noch literarisch verpackt hatten, knallte uns nun in nüchternem Wissenschaftsdeutsch um die Ohren: „Kontaktverlust zu sich selbst, innere Einsamkeit“; „verborgene posttraumatische Dynamiken, resultierend aus der seelischen und körperlichen Gewalt in elterlicher und schulischer Erziehung“; „Geängstigtsein in Bindungen, Sehnsucht nach Beziehungsfähigkeit“; „ein Bemühen um seelische Befreiung, um Identität“; „verinnerlichte Normalität seelischer Härte im Umgang mit sich selbst und anderen. Funktionierenmüssen“.

Ich sah meinen Vater, meine Mutter vor mir, sehr deutlich, fühlte eine Angst, eine Einsamkeit, eine Wut, die nicht meine war. Dutzende kleiner Szenen aus meiner Kindheit, über die ich nie nachgedacht hatte, gingen mir nun durch den Kopf: die seltsamen Seufzer meiner Oma, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, der Fernseher, den sie abrupt abschaltete, wenn dort etwas über irgendeinen Krieg gesendet wurde. Mein Opa, der mir jeden Wunsch erfüllte, aber mich „Susannchen“ nannte, wie die Tochter, die er im Krieg verloren hatte. Die andere Oma, die weinte, wenn ich ihre Schnitzel nicht essen wollte. Mein stiller westpreußischer Vater, der manchmal wegen Nichtigkeiten in Zorn geraten konnte, meine Mutter aus dem Ruhrgebiet, die wie ein Wasserfall redete, aber eigentlich nie etwas über sich erzählte. Die ganze Verwandtschaft, in der niemand wirklich etwas von sich preisgab, in der weder über Kündigungen noch über verzocktes Geld geredet wurde, nicht einmal über Krankheiten, über Angst und Wut, als wäre das alles etwas, wofür man sich schämen müsste.

Beim Tod meines Großvaters stellte ich fest, dass auch ich nicht weinen konnte – weil meine Mutter mich vorwurfsvoll darauf hinwies. Mit allen Mitteln habe sie versucht, mir diese Emotionslosigkeit abzuerziehen. Sie frage sich, warum das so schwer sei.

Und so wurde ich Reporter, ein Beobachter der Transformation eines fremden Reiches, der Sowjetunion, ein Spezialist für Krisen, Zerfall und Leid, auf der Suche nach einer Trauer, die ich jahrelang in der Ferne suchte – und letztlich in mir selber fand, als Abbild dessen, was meine Eltern so tief in sich vergraben haben mussten, dass sie sich seiner Existenz vielleicht nicht einmal mehr bewusst waren. Eine Trauer, die mich auf diese Konferenz getrieben hatte und die in den nächsten drei Tagen von Anthropologen, Historikern, Theologen und Literaturwissenschaftlern aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet wurde.

Als der Moderator danach das Mikrofon ins Publikum reichte, war es wie ein Dammbruch. Jeder wollte von seinen Gefühlen erzählen, mal mit belegter, mal mit wütender, mal mit schüchterner, mal mit energischer Stimme, und jeder saugte die Gefühle der anderen auf wie ein Schwamm. Es war eine Atmosphäre, die mich an die Wendewochen in Berlin erinnerte, an diese Mischung aus Aufbruch, Solidarität und lang vergrabenen Sehnsüchten, die sich wie auf ein geheimes Signal hin endlich Bahn brachen. Ein historischer Moment. Eine Befreiung, wie Richard von Weizsäcker sie in seiner berühmter Bonner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 beschrieben hatte. Eine politische Befreiung, die nun endlich auf dem Weg war, auch eine emotionale zu werden.

„Jede Generation hat ihre Aufgaben“, sagte Angela Morè, Professorin für Sozialpsychologie, bei der Abschlussdiskussion. „Die Elterngeneration krempelte die Ärmel auf, um die äußeren Trümmer zu beseitigen. Die seelischen Trümmer zu beseitigen – das ist Aufgabe der Enkel.“

Ich glaube, ich habe an diesem Wochenende zum ersten Mal kapiert, dass ich trotz meiner Bücherwände, meiner Reisen und meines Berufes wenig begriffen hatte von meiner eigenen Geschichte. Ausgerechnet Christa Wolf, durch deren Bücher ich mich einst aus akademischem Pflichtbewusstsein hindurchgekämpft habe, hat das lange vor Gründung der ersten „Kriegsenkel“-Gruppen in „Kindheitsmuster“ auf den Punkt gebracht: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

Vielleicht musste für mich die Zeit erst reif werden für ein solches Kriegsenkel- Gefühl. Vielleicht musste ich erst aufgeweicht werden, von dem mir nahgekommenen Tschernobyl und dem fernen Fukushima, der Finanzkrise und den eigenen Existenzsorgen – und dem Gefühl, dass auch über der Politik dieser Nebel waberte, der in den Kriegsenkel-Interviews so oft auftaucht. Aufgeweicht werden für die Erkenntnis, dass mein Dasein in ganz anderer Form mit der deutschen Geschichte verwoben war, als ich mir das früher vorgestellt hatte. Und wie gut es tat und tut, Archive in eigener Sache anzulegen, Orte der familiären Vergangenheit aufzusuchen, ihre Atmosphäre in sich aufzunehmen.

In Krisengebiete zieht mich momentan nichts mehr. Lieber will ich den Frieden beschreiben, das Zueinanderfinden.

Gestern habe ich meinen Eltern einen Brief geschickt. Einen Brief mit vielen Fragen. Ich weiß nicht, ob und wie sie darauf reagieren werden. Aber vielleicht ist das gar nicht mehr so entscheidend, jetzt, wo ich weiß, was mich so lange gequält hat. Wo ich die Angst, die Scham und die Trauer gefunden habe, die so lange hinter dem Nebel einer westfälischen Wohlstandsidylle verborgen lagen.

Merle Hilbk

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