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Der Präsident des Europäischen Rechnungshofs, Klaus-Heiner Lehne.

© Mike Wolff

Europäische Union: „Kein Geld in nutzloses Betongold umwandeln“

Der Präsident des Europäischen Rechnungshofs, Klaus-Heiner Lehne, über die Verschwendung von EU-Geldern und den Kontrollverlust gegenüber der EZB.

Herr Lehne, 2019 wird ein wichtiges Jahr für Europa. Die Briten treten aus, im Mai wird ein neues Europaparlament gewählt. Dann kommt ein neuer Haushaltsplan, der bis 2027 gelten soll. Der Europäische Rechnungshof hat die Aufgabe, die Ausgaben zu kontrollieren und damit auch Verschwendung von EU-Geldern zu vermeiden. Wie funktioniert das in der Praxis?

Wir prüfen in erster Linie die Arbeit der EU-Kommission. Bei der Vergabe von EU-Fördergeldern hat sich der Europäische Rechnungshof in der Vergangenheit sehr stark auf die Frage konzentriert, ob die Regularien eingehalten wurden - etwa die Vorschriften bei der Ausschreibung. In diesem Bereich ist die EU in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewaltig vorangekommen: In der Zeit, als die Kommission wegen Unregelmäßigkeitsvorwürfen 1999 zurücktreten musste, gab es bei der Mittelvergabe prozentuale Fehlerquoten im zweistelligen Bereich. In der aktuellen EU-Haushaltsperiode sind wir über den gesamten Haushalt bei geschätzten 2,4 Prozent angelangt. Daher stehen für uns inzwischen andere Fragen im Vordergrund: Ergibt ein Projekt planerisch einen Sinn? Steht ein tragfähiges Geschäftsmodell dahinter?

Können Sie Beispiele nennen?

Es stellt sich etwa die Frage, ob es Sinn ergibt, erhebliche Summen in den Ausbau des Brenner-Basistunnels zu stecken, wenn die Anschlüsse in Bayern und Italien möglicherweise nicht rechtzeitig gebaut werden. Wir erstellen gegenwärtig einen Bericht zu den von der EU geförderten transeuropäischen Verkehrsnetzen, mit denen die Verbindungen im Binnenmarkt verbessert werden sollen.

Welche Folgen hat es, wenn sich der Fokus Ihrer Arbeit auf die Frage verlagert, welche EU-Projekte überhaupt sinnvoll sind?

In diesem Jahr haben wir rund 50 Berichte zu einzelnen EU-Politikbereichen erstellt. Der neue Schwerpunkt in unserer Arbeit führt dazu, dass die Fachpolitiker in den betroffenen Ausschüssen im Europaparlament plötzlich Interesse für unsere Arbeit zeigen. Ich weiß ja selbst aus meiner Erfahrung als Parlamentarier, dass man als Abgeordneter seinen ganzen Ehrgeiz daransetzt, ein bestimmtes Gesetz zu verabschieden. Aus meiner heutigen Warte füge ich aber hinzu: Die Arbeit eines Parlamentariers darf nicht beendet sein, wenn das Gesetz verabschiedet ist. Die Umsetzung und die Kontrolle der beteiligten Verwaltungen ist genauso wichtig.

Derzeit verhandelt die EU-Kommission mit den Mitgliedstaaten über die Verteilung der Gelder in der nächsten Finanzperiode zwischen 2021 und 2027. Wie lautet ihr Ratschlag an die Verhandler?

Um es zugespitzt zu sagen: Es darf keine flächendeckende Subventionierung geben, und es darf auch kein Geld in nutzloses Betongold umgewandelt werden. Unser besonderes Augenmerk gilt der Agrarpolitik in der nächsten Haushaltsperiode. Eigentlich hat sich die EU das Ziel gesetzt, dörfliche Strukturen zu fördern sowie die Umwelt und das Klima zu erhalten. Dazu passt aber nicht, dass 80 Prozent der landwirtschaftlichen Fördermittel in die Agrarindustrie fließen. Dagegen bräuchten kleinere und mittlere Betriebe in den Mittelgebirgsregionen sehr viel mehr Unterstützung. Und wenn die Großbetriebe dann Umweltschäden produzieren, dann gibt es wieder andere EU-Programme zur Behebung dieser Schäden. Das ergibt doch keinen Sinn.

Und kommt Ihre Botschaft bei den Verantwortlichen an?

In der Agrarpolitik hat man es häufig mit Verantwortlichen zu tun, die sich seit Jahrzehnten mit ihrem Fachbereich beschäftigen. Entsprechend groß ist auch das Beharrungsvermögen. Die Bereitschaft zu wirklich fundamentalen Reformen wird nicht aus dem Agrarsektor selbst kommen. Der Druck von außen muss wohl noch größer werden, damit sich etwas bewegt. Aber wir können unseren Beitrag dazu leisten, dass die Mittel weniger einseitig auf die Großbetriebe konzentriert werden.

Wie denn?

Machen wir uns nichts vor: Die EU-Kommission wird sich bei den Etatverhandlungen voraussichtlich nicht komplett mit ihrer Forderung durchsetzen, dass der nächste EU-Haushaltsrahmen 1,1 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung umfassen soll. Wahrscheinlich wird man in den Verhandlungen irgendwo unterhalb dieser Marke landen. Wenn die EU aber gleichzeitig neue Aufgaben wie die Sicherung der Außengrenzen ausbauen will, dann muss es Umschichtungen zu Lasten der größten Blöcke im Etat geben. Und das sind nun einmal die Agrarförderung und die Kohäsionsfonds, also die wichtigsten Strukturhilfen.

Reichen denn Umschichtungen?

Der gesamte EU-Haushalt umfasst derzeit 140 Milliarden Euro pro Jahr. Das klingt nach viel, ist aber tatsächlich eher wenig. Daher ist das Geld nur wirksam angelegt, wenn wir uns auf bestimmte Ziele konzentrieren und nicht nach dem Gießkannenprinzip ausschütten. Es braucht mehr Fokussierung auf wirklich wichtige Aufgaben.

Fallen eigentlich bestimmte Mitgliedsländer besonders auf, wenn der Rechnungshof die Verwendung von Mitteln prüft?

Unsere normalen Prüfungen sind zwangsläufig Stichproben. Und aus einzelnen Fällen sollte man keine allgemeinen Rückschlüsse ziehen. Bei 1000 Prüfungen in 28 Mitgliedstaaten ist die statistische Basis für eine Einzelbewertung der Mitgliedstaaten zu klein. Aber meine allgemeine Einschätzung ist, dass kein Mitgliedsland negativ besonders auffällt.

Also auch die osteuropäischen Länder nicht, die erst seit 2004 dabei sind? Kommen die schon klar mit der Verwendung von EU-Mitteln? Gerade Ungarn hat ja recht viele Vertragsverletzungsverfahren und auch mehrere Ermittlungsverfahren der EU-Sonderbehörde gegen Korruption am Hals.

Ich kann nur aus Sicht des Haushaltskontrolleurs sprechen, denn für Betrugsverdachtsfälle sind wir nicht zuständig. Und aus unserer Sicht muss ich sagen, dass die Osteuropäer nicht besser und nicht schlechter abschneiden bei der Mittelverwendung als die anderen. Es gibt natürlich regionale Unterschiede, wenn es um die Effizienz geht oder die Fähigkeit, eigene Kofinanzierungsmittel bereitzustellen. Aber das hängt auch damit zusammen, dass die EU-Programme eben zu wenig konzentriert sind.

In Deutschland hat der Bund ja derzeit das Problem, dass Mittel für kommunale Unterstützungsprogramme nicht im geplanten Maß abfließen.

Das haben wir in der EU auch. Immer wieder werden Mittel nicht abgerufen. Eben weil es an der verlangten Mitfinanzierung hapert, oder weil Planungen nicht vorankommen und Verwaltungen nicht hinterherkommen. Die Mittel sind gebunden und müssen zu einem späteren Zeitpunkt abgewickelt werden. Neuerdings sogar drei Jahre über die Haushaltsperiode hinaus. Das ist aber ein echtes Problem geworden. Denn diese noch abzuwickelnden Mittelbindungen liegen mittlerweile bei nahezu dem Doppelten des eigentlichen Haushaltsvolumens. Da sind also gewaltige Beträge aufgelaufen. Die Kommission will sie nun abbauen. Aber ich bin nicht sicher, dass das Parlament und der Europäische Rat das mitmachen.

Was Lehne über ein Euro-Zonen-Budget denkt

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron macht sich für ein Euro-Zonen-Budget stark.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron macht sich für ein Euro-Zonen-Budget stark.

© Ludovic Marin/AFP

Welche Anforderungen stellen Sie an das vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron geforderte Eurozonen-Budget, wenn es kommt?

Das Wichtigste ist, dass es kein weiteres Satellitenbudget sein darf. Also kein Nebenhaushalt. Denn das ist einer unserer Hauptkritikpunkte überhaupt. Die Zahl der Nebenhaushalte der EU hat überhand genommen und darf nicht weiter wachsen. Hier ist eine ganze Galaxie von Satelliten entstanden. Die gehen gern auf Sachzwänge zurück, weil der eigentliche Haushalt der EU nicht flexibel genug konstruiert ist. So entstehen immer wieder Sondertöpfe für dies und das.

Und sind ihrem Blick entrückt?

Sie können vor allem parlamentarisch nicht vernünftig kontrolliert werden, weder vom Europäischen Parlament noch von den nationalen Parlamenten. Und auch die Aufsicht durch die Rechnungshöfe, durch meinen eigenen und die in den Mitgliedstaaten, ist begrenzt. So entsteht ein Verlust an Transparenz, und damit gehen Risiken einher. Daher muss ein Eurozonen-Budget unbedingt wie ein regulärer Haushalt eingerichtet werden, der entsprechend durchsichtig ist und von uns geprüft werden kann.

Wie können unkontrollierte Zonen wie diese Nebenhaushalte überhaupt entstehen?

Weil die Rechtsgrundlage für die Prüfung fehlt. Und das ist manchmal auch gewollt. Nicht vom Parlament, sondern von der Kommission und nicht zuletzt von den Einzelregierungen der EU-Staaten. Ein Beispiel ist der Rettungsfonds ESM, der zwar außerhalb der klassischen EU-Gemeinschaftsstruktur angesiedelt, aber dennoch eine Einrichtung ist, die Bedeutung für die EU hat. Hier werden private Wirtschaftsprüfer eingeschaltet, aber nicht der Rechnungshof. Bei der Europäischen Investitionsbank ist es ähnlich.

Sieht wie ein Krake aus.

Das stimmt aber nicht für die eigentlichen Kerninstanzen der EU. In dem Bereich haben wir wenig Probleme mit den Kontrollmöglichkeiten. Wohl aber in den ganzen Ecken, die auf direkten Vereinbarungen zwischen den Mitgliedstaaten beruhen. Also da, wo Kommission und Parlament eine untergeordnete Rolle spielen.

Wie sieht es bei der Europäischen Zentralbank aus? Die ist ja aus Sicht vieler Bürger in den vergangenen Jahren viel stärker in den Fokus gerückt, wegen der Zinspolitik und den Anleihekäufen.

Da haben wir in der Tat eines der größten Probleme, was die Kontrolle betrifft. Es ist eine vollkommen paradoxe Situation. Vor 2008, also vor der Finanzkrise, war Bankenkontrolle die Aufgabe der nationalen Aufsichtsbehörden. In Deutschland also der Bafin. Die Bankenkontrolleure wurden wiederum von den Rechnungshöfen beaufsichtigt. So gab es keinen kontrollfreien Raum. Dann brachte die Finanzkrise die Erkenntnis, dass die Bankenaufsicht zumindest für die großen Institute auf nationaler Ebene falsch angesiedelt ist. Das lag auch an mangelhafter Kooperation der nationalen Aufsichtsbehörden miteinander. Daher übertrug man die Bankenaufsicht für alle Institute, die als systemisch relevant eingestuft wurden, an die EZB. Was man vergaß, war die Kontrolle über die EZB für den Bereich der Bankenaufsicht anzupassen. So ist in der Praxis ein kontrollfreier Raum entstanden.

Wie konnte das passieren?

Es blieb einfach bei den alten Regelungen. Als es nur den administrativen und den geldpolitischen Teil der EZB gab, war klar: Wir können zwar die Reiseabrechnungen der EZB-Manager betrachten, aber nicht die geldpolitischen Entscheidungen - soweit zu Recht. Das bedeutet aber jetzt, dass wir - jedenfalls nach Auffassung der EZB - auch nicht prüfen können, ob die EZB ihre Bankenaufsicht regelkonform und effizient ausübt. Was für Bafin und Bundesrechnungshof einst galt und heute noch bei der Aufsicht über kleinere Banken gilt, gibt es zwischen EZB und Europäischem Rechnungshof nicht. Die bisherigen Prüfungen haben gezeigt: Wir können qualitativ nicht prüfen, wie die EZB im Einzelfall bankenaufsichtsrechtliche Pflichten ausübt. Der Zugang zu relevanten Unterlagen wurde uns verweigert. Das geht aber nicht. Der normale Weg wäre, dass der Rechnungshof Zugang zu allem hat, was er für prüfungswürdig hält, und die EZB zum Europäischen Gerichtshof geht, wenn sie glaubt, wir überschritten unser Mandat. Jetzt aber bestimmt die EZB, was geprüft werden darf.

Das klingt in der Tat paradox…

… es ist sogar noch paradoxer. Denn weil die EZB schon rein personell gar nicht in der Lage ist, alle großen Banken wirklich selbst zu beaufsichtigen, bildet sie gemeinsame Aufsichtsteams mit den nationalen Behörden. Die Bafin zum Beispiel kann aber vom Bundesrechnungshof in dem Zusammenhang gar nicht geprüft werden, weil sie ja im Auftrag der EZB handelt. Und auf europäischer Ebene sind die nationalen Instanzen nicht zuständig. Um das eindeutig zu ändern, müsste die Kommission einen Vorschlag machen, der Rat und das Parlament die Verordnung ändern. Es ist eine komplizierte Rechtsfrage, denn die eingeschränkte Prüfungsmöglichkeit bei der EZB für den Bereich der Geldpolitik ist in deren Satzung verankert. Aber ich sehe da Spielraum, den muss die Politik nutzen.

Haben Sie in der Hinsicht noch etwas auf Lager?

Ja. Das Schlimme ist, dass die Haltung der EZB auch Auswirkung auf andere EU-Einrichtungen hat. Die verweigern dann zum Beispiel die Einsicht in EZB-originäre Dokumente mit der Begründung, wir seien nicht kontrollbefugt. Etwa beim EU-Bankenabwicklungsfonds. All das führt zu einer Prüfungslücke, weshalb wir schon an Kommission, Rat und Parlament herangetreten sind.

Ist dann auch der große Banken-Stresstest der EZB, dessen Ergebnis kürzlich veröffentlicht wurde, letztlich eine Art Black Box, in die kein Kontrolleur hineinschauen kann?

Wir müssen hier differenzieren. Den EU-weiten Stresstest initiiert und koordiniert die Europäische Bankenaufsichtsbehörde EBA zusammen mit dem Bankenabwicklungsfonds. Aus unserer Sicht erstreckt sich unser Prüfungsrecht folgerichtig auf die Tätigkeiten, die die EBA im Rahmen ihrer Funktion ausübt. Andererseits kann man auch hier wieder Probleme erwarten, wenn Modelle der EZB zur Erstellung des Szenarios genutzt oder aufsichtliche Unterlagen der EZB benötigt werden.

Das Gespräch führten Albert Funk und Albrecht Meier.

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