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Lothar H. Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), reagiert während einer Pressekonferenz zur Corona-Pandemie.

© Kay Nietfeld/dpa

„Legen immer wieder die Hand auf die heiße Herdplatte“: Frust über Corona-Politik – RKI-Chef Wieler legt im Interview nach

Vor einigen Tagen kritisierte der RKI-Chef die politisch Verantwortlichen in einer Videoschalte scharf. Sein Ärger ist offensichtlich noch nicht verflogen.

RKI-Chef Lothar Wieler hat in einem Interview mit der "Zeit" seine Kritik an der Regierung und den politisch Handelnden bekräftigt. Die Ausgangslage ist für Wieler klar: "Die Situation war noch nie so ernst wie jetzt. Das liegt daran, dass noch immer viel zu wenige Menschen geimpft sind, die Impflücke bei den Erwachsenen beläuft sich auf rund 15 Millionen Menschen", erklärt er in dem Interview.

Die Folge: Vielerorts würden die Intensivstationen volllaufen, eine optimale medizinische Behandlung sei schon jetzt nicht mehr überall möglich.

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Wieler, das liest man zwischen den Zeilen, ist angesichts dieser Entwicklung fassungslos und sauer. Seinen Ärger über die Situation hatte der RKI-Chef vergangenen Mittwoch in einer Videoschalte mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer ausgedrückt. Seit Beginn der Pandemie würden Ratschläge von ihm und anderen Experten missachtet, klagte Wieler da.

Auch jetzt sagt er: "Fakt ist, dass viele unserer Empfehlungen in vielen Bundesländern einfach nicht umgesetzt wurden. Und klar ist auch: Wären sie umgesetzt worden, wäre das Infektionsgeschehen im Moment deutlich weniger dynamisch." In dem Interview bringt er einige Beispiele.

Vorwurf 1: Maskenempfehlung ignoriert und zu lasche Kontrollen

Wieler dazu: "Nehmen wir als Beispiel die Empfehlung des RKI, wie man in Schulen Kinder vor Infektion schützen kann. Masken zu tragen ist dabei zentral. Manche Bundesländer haben die Maskenpflicht trotzdem einfach abgeschafft. Ähnlich ist es bei der Teststrategie oder 2G. Wenn Maßnahmen wirken sollen, dann müssen sie auch angewendet und kontrolliert werden."

Vorwurf 2: Die Folgen einer zu niedrigen Impfquote wurden von der Politik ignoriert

Dieses Thema bringen die zwei Interviewer auf. "Das RKI hat im Sommer ein Papier veröffentlicht, in dem es modelliert, was passiert, wenn die Impfquote stagniert. Den jetzigen Anstieg der Fallzahlen und Krankenhausaufnahmen hat es recht genau vorhergesagt. Trotzdem hat die Politik nichts unternommen", konstatieren sie.

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Das veranlasst Wieler zu einem plakativen Vergleich.

Er sagt: "Es ist bemerkenswert, dass man offensichtlich immer wieder die Hand auf die heiße Herdplatte legen muss, um zu merken, dass man sich dann verbrennt. Das ist ernüchternd, gar keine Frage." 

Vorwurf 3: Die Politik hat das Impfen nicht entschieden genug forciert

Wieler richtet seine Aussage nicht direkt an die Politik, aber wer gemeint ist, wird in seinem Statement klar: "Ich bin nicht der Ansicht, dass man es jedem ohne Not ermöglichen sollte, um diese Impfung herumzukommen. Das haben wir jetzt so lange getan, und wir wissen, dass die Impfquoten nicht reichen."

Von den Über-60-Jährigen seien drei Millionen nicht geimpft, hatte Wieler vergangenen Mittwoch gewarnt. „Wenn alleine die alle infiziert würden, dann wären alleine von denen unsere Intensivbetten schon alle belegt - wenn sie denn alle auf Intensiv überhaupt noch kommen“.

Vorwurf 4: Deutschland ist nicht auf das Boostern vorbereitet

Ist das Land für das großflächige Boostern gerüstet?, fragen die Interviewer Wieler. Und auch hier folgt Klartext: "Offensichtlich nicht. Es sind derzeit nicht genügend Kapazitäten da. Die Stiko hat schon im Oktober empfohlen, dass die Über-70-Jährigen sowie Angehörige bestimmter Berufsgruppen und Menschen mit Vorerkrankungen den Booster bekommen sollen. Das sind viele Millionen. Bundesweit sind bisher aber nur knapp sechs Millionen Menschen dreimal geimpft. Das liegt weniger am mangelnden Willen der Impflinge, sondern vermutlich eher an fehlenden Kapazitäten."

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Tatsächlich hatte das RKI schon im Sommer geschrieben: „Ein höherer Anteil an 'Impfdurchbrüchen' oder von Reinfektionen könnte den Anteil schwerer Erkrankungen erhöhen." Das RKI rät daher am 22. Juli, „jetzt“ Auffrischimpfungen, insbesondere für Ältere und Risikogruppen, zu planen. Planungen auf Bundesebene, die Anstrengungen beim Boostern zu steigern, gab es aber bis in den November hinein nicht.

Wielers Appell, um die gegenwärtige Lage zu entspannen, geht in dem Interview aber weniger in Richtung der Politik, sondern an die Bevölkerung. Konkret bittet er:

  • "Reduzieren Sie Ihre privaten Kontakte so weit wie möglich.
  • Vermeiden Sie vor allem Treffen mit vielen Menschen in Innenräumen. 
  • Wenn Sie sich mit Menschen aus Risikogruppen treffen, machen Sie vorher sicherheitshalber einen Selbsttest, auch wenn Sie geimpft oder genesen sind. 
  • Bitte halten Sie sich immer überall an die AHA+L-Regeln: Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Mund-Nase-Schutz tragen und Lüften – auch wenn Sie geimpft sind, auch wenn Sie zusätzlich getestet sind, auch bei 2G-Veranstaltungen.
  • Wenn Sie Symptome einer akuten Atemwegsinfektion haben, bleiben Sie bitte zu Hause und lassen Sie sich PCR-testen."

In der Pandemie war Lothar Wieler durch seine eher zurückhaltende Art aufgefallen. Doch seit einigen Tagen hat sich das geändert. Nun nimmt Wieler kein Blatt mehr vor den Mund, entschlüpft der Rolle des Corona-Diplomaten. (Tsp)

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