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Unabhängig vom Ergebnis ist diese Wahl ein Triumph für Marine Le Pen, schreibt Tagesspiegel-Autorin Pascale Hugues.

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Frankreich vor der Wahl: "Für uns in Frankreich und in Europa geht es ums Überleben"

Enthaltung ist heute für Franzosen keine Option. Denn es wird nicht nur ein neuer Präsident gewählt. Es wird über die Zukunft Europas entschieden. Ein Plädoyer an das Verantwortungsgefühl.

An diesem Sonntag werden wir Berliner Franzosen uns wieder aufs Fahrrad setzen. Wir werden den Tiergarten durchqueren oder Unter den Linden entlangfahren und am Pariser Platz absteigen. Wir alle werden uns in der Schlange vor der französischen Botschaft wiedertreffen. Alle? Die sturen Mélenchonnisten, ein paar treue Fillonnisten und enttäuschte Sozialisten, dazu alle, die den politischen Zirkus nicht mehr ertragen können: Sie werden nicht wählen. Mit Wut im Bauch werden sie zu Hause bleiben. Klar, dass das keine Lösung ist: Ob wir Emmanuel Macron gut finden oder nicht – wir müssen für ihn stimmen! So wie wir 2002 für Jacques Chirac gestimmt haben. Ohne zu zögern. Wir haben keine Wahl. Um den Rest kümmern wir uns später. Für uns in Frankreich und in Europa geht es ums Überleben.

Eine Stunde Schlangestehen, mindestens. Wir haben genug Zeit, uns noch ein letztes Mal die Ausgangsszenarien auszumalen und uns gegenseitig zu beruhigen. "Wenn alles läuft wie vorgesehen…" Wir werden uns an die letzten Umfragen klammern. Sie sehen Emmanuel Macron als eindeutigen Sieger. Aber was, wenn die Demoskopen sich geirrt haben und uns eine üble Überraschung erwartet? Wir erinnern uns an den Brexit und an die Wahl von Donald Trump. Dieser Schock am Morgen danach. Sicher, Frankreich hat ein ganz anderes Wahlsystem! Und die Franzosen werden eine Republikanische Front bilden! Mit vereinten Kräften werden wir den Front National (FN) abwehren!

Nichts zu sehen vom französischen Elan

Im Jahr 2002 schaffte es der FN zum ersten Mal in die Stichwahl und stand Jacques Chirac gegenüber. Jeden Tag versammelten sich 300.000 Menschen auf dem Place de la République in Paris. In allen Großstädten demonstrierten wir. Auch die Sozialisten waren dabei. Wir waren uns einig: Der Sieg von Jean-Marie Le Pen muss verhindert werden, koste es, was es wolle. Chirac erhielt 81,2 Prozent der Stimmen. Eine überwältigende Mehrheit. Ein überzeugender Sieg der Republik.

Wo waren die Demonstranten am Abend des ersten Wahltags vor zwei Wochen? Wo war der große spontane Elan, um den die Deutschen uns beneiden, wenn wir zu Tausenden auf die Straße gehen, um für die Freiheit und unsere Werte einzustehen? Nicht einmal tausend Demonstranten kamen auf den Place de la République.

Der FN gehört inzwischen zum nationalen Mobiliar. Auch wenn Marine Le Pen heute scheitert, wird sie doch die nächsten fünf Jahre überschatten: Im ersten Wahlgang haben 7,6 Millionen Franzosen für sie gestimmt – aus Wut, aus Trotz, aus Verzweiflung, sehr oft auch aus Überzeugung. Unabhängig vom Ergebnis ist diese Wahl ein Triumph für Marine Le Pen. Sie ist in aller Munde. Sie muss nicht mal namentlich genannt werden, um Angst zu machen.

Vor 15 Jahren hatte Jacques Chirac sich noch geweigert, mit Jean-Marie Le Pen im Fernsehen zu debattieren, wie es vor dem zweiten Wahlgang üblich ist. Emmanuel Macron hat sich entschlossen, in den Ring zu steigen. Eine Auseinandersetzung, pardon: eine Schlacht, wie sie in Deutschland undenkbar wäre. Um Punkt 21 Uhr schlug sie zum ersten Mal zu. Sie grinste höhnisch, provozierte den eloquenten jungen Mann. Er blieb ruhig. Schaute sie an mit seinen blauen Augen und wiederholte: "Madame Le Pen, Frankreich hat das nicht verdient!" Sie dagegen: aggressiv, ordinär, voller Groll. Neben ihr wirkt Frauke Petry wie eine niedliche kleine Maus.

Emmanuel Macron - eine Marionette des Kapitals?

Wenn Emmanuel Macron heute Abend gewinnt, ist er dann wirklich der Sieger? Wird er, wie er es möchte, der Präsident aller Franzosen sein? In den vergangenen Wochen wurde viel über das zerrissene Frankreich geschrieben, über dieses Land am Ende seiner Kraft, das in zwei gegensätzliche Lager geteilt ist: Gewinner und Verlierer der Globalisierung, Stadt und Land, Privilegierte und Arme, Happy Few und Loser, Pro-Europäer und Pro-Frexit. Wie viele linke Franzosen werden heute Macron wählen und morgen gegen seine Reformen demonstrieren?

In den Augen der linksextremen Betonköpfe und der stumpfen Frontisten ist dieser ehemalige Investmentbanker ein raffgieriger Neo- Liberaler, eine Marionette des Kapitals, ein Sohn des Establishment. Wehe, wenn er es wagt, die sozialen Errungenschaften anzugreifen! Hände weg vom Renteneintrittsalter! Keine Reform des Arbeitsmarkts à la Peter Hartz! Ich sehe schon das Chaos, die Streiks, die Demos auf den Boulevards, die endlosen Auseinandersetzungen vor mir. Und werden die gedemütigten alten Füchse der traditionellen Parteien ihn nicht büßen lassen, diesen unverfrorenen Novizen, der an ihnen allen vorbeigezogen ist und den sie als "Seifenblase" und "Beachboy", "Monsieur X" verspotten? Werden sie sich nicht rächen, indem sie seine Gesetzesentwürfe im Parlament systematisch blockieren?

Frankreich ist nicht Deutschland, wo die Parteien eine große Koalition bilden können. Nein, für die Konfliktpartnerschaft sind wir nicht geschaffen. In Frankreich weiß man, zu welchem Wirrwarr die Cohabitation à la française führen kann. Emmanuel Macron wird wahrscheinlich Präsident. Aber dann stellt sich die Frage: Erbt er ein unregierbares Land unter dem Schatten von Marine Le Pen? Oder wird der jüngste Präsident der Geschichte ein Wunder vollbringen und die alten Strukturen brechen können?

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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