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Drogenrazzia in der Hasenheide in Berlin-Neukölln. Wie verbreitet ist das "racial profiling"?

© Mike Wolff

Gibt es in Deutschland strukturellen Rassismus?: Erfahrungsberichte ersetzen keine Statistik

Viele Menschen werden in Deutschland diskriminiert. Doch die Datenlage dazu ist dünn. Ohne ein „ethnic monitoring“ fehlen die Beweise. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

In den USA wird alles erfasst. Wer umzieht und seine künftige Postleitzahl eingibt – zum Beispiel 22302 bei zip-codes.com -, erfährt über seine neue Nachbarschaft: die Bevölkerungsstruktur, aufgeteilt nach Alter, Ethnien, Mann-Frau, Geschiedene, Singles, Senioren, die Zahl der Sozialhilfeempfänger, Arbeitslosen, die Grundstückspreise, die Qualität der Schulen.

Eine andere Webseite listet für dieselbe Postleitzahl die dort lebenden Sexualstraftäter auf, mit vollem Namen, der Adresse, dem Risikostatus und dem Hinweis, ob sie tätowiert sind. Datenschutz? Allenfalls rudimentär.

In Großbritannien wird im Mikrozensus nach Religionszugehörigkeit, Hautfarbe und Ethnie gefragt. Die Teilnehmer sollen sich selbst einordnen: White, Mixed/Multiple ethnic group, Asian/Asian British, Black/African/Caribbean/Black British, Other ethnic group.

Ein Kuriosum: Aus Protest gegen die Frage nach der Religionszugehörigkeit gaben im Jahr 2001 viele Teilnehmer an, dem Jediismus zu folgen, einer synkretistischen Religion, die sich aus der in „Star Wars“ vermittelten Philosophie ableitet. Bekannt wurde das als „Jedi-Zensus-Phänomen“.

In Deutschland sind derart weitreichende Abfragepraktiken unvorstellbar. Das hat mit der deutschen Geschichte zu tun, dem Datenschutz, dem Minderheitenschutz.

Der Migrationshintergrund wird erfasst

Im Mikrozensus wird seit dem Jahr 2005 zwar auch in allgemeiner Form der Migrationshintergrund erfasst – vorher gab es nur Ausländer und Deutsche -, aber der Begriff ist unspezifisch und wird der Vielfalt der Migrationsgeschichten nicht gerecht.

Als Menschen mit Migrationshintergrund gelten nach statistischer Definition sowohl eingebürgerte Deutsche, die nach 1949 in die Bundesrepublik eingewandert sind, als auch in Deutschland lebende Ausländer sowie in Deutschland geborene Kinder mit deutschem Pass, bei denen sich der Migrationshintergrund von mindestens einem Elternteil ableitet. Konkreter wird’s nicht.

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Innenminister Horst Seehofer hat unlängst eine Studie über Rassismus innerhalb der Polizei für unnötig erklärt. Zur Begründung hieß es, das sogenannte „racial profiling“ – also Polizeikontrollen allein aufgrund äußerer Merkmale – seien verboten, folglich könne es sich dabei nur um Einzelfälle handeln. Zu Recht wurde Seehofer für diese Argumentation verspottet.

Viele Behauptungen haben anekdotische Relevanz

Was aber richtig ist: Die Datenlage ist in Deutschland sehr dünn. Solche Daten dürfen nur dann erhoben und verwendet werden, wenn sie die Belange der Betroffenen potenziell nicht beeinträchtigen. Ein Beispiel: Bei mutmaßlich antisemitischen Straftaten darf die Polizei nicht nach der Religionszugehörigkeit des Täters fragen. Ob er ein Sunnit aus dem Irak, ein Jeside aus Syrien oder ein Christ aus Eritrea ist, wird nirgends vermerkt. Aussagen über „islamischen Antisemitismus“ haben daher allenfalls anekdotische Relevanz.

Juden, Muslime, Migranten, Ausländer, Eingebürgerte, Flüchtlinge: Viele von ihnen erleben in Deutschland Diskriminierung. Das betrifft ihre Zugangschancen zu Arbeit, Wohnraum und Bildung ebenso wie das Verhalten von Angestellten in staatlichen Einrichtungen ihnen gegenüber - in Ämtern, bei der Polizei, im Gesundheitswesen.

Aber ohne „ethnic monitoring“, also der möglichst spezifischen Herkunftserfassung der Betroffenen, können systematische Ungleichheiten weder fest- noch abgestellt werden. Bloße Erfahrungsberichte ersetzen keine Statistik. Eine wirksame Migrations-, Integrations- und Antirassismuspolitik kommt ohne solche Informationen nicht aus.

Damit Antirassismus nicht im Appellativen verharrt

Die entsprechenden Angaben müssen natürlich freiwillig gemacht und auf Wunsch anonymisiert werden. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung legt es in die Entscheidungsfreiheit jedes Einzelnen, über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen.

Es stimmt: „Ethnic monitoring“ kann als Mittel zur Diskriminierung missbraucht werden. Statistiker können anhand von Zahlen Zusammenhänge behaupten, die sich in ihrer Kausalität nicht beweisen lassen. Thilo Sarrazin hat dies in übler Weise praktiziert.

Aber bei einer Güterabwägung überwiegt der Nutzen. Diskriminierte Gruppen können nur dann gezielt gefördert werden, wenn nicht nur direkte, sondern auch strukturelle Formen der Ungleichbehandlung nachweisbar sind. Wer Studien über Rassismus innerhalb der Polizei sinnvoll findet, sollte dafür plädieren, dass Daten zur ethnischen Zugehörigkeit der verdachtsabhängig Kontrollierten erhoben werden. Wie sonst soll ein mögliches „racial profiling“ unterbunden werden?

Keiner wünscht sich in Deutschland amerikanische oder britische Zustände. Stattdessen muss nach Wegen gesucht werden, „ethnic monitoring“ und Datenschutz miteinander zu vereinbaren. Denn Antirassismus ohne Datenbasis ist zwar möglich, verharrt aber im Appellativen. Dort verebbt er dann leider auch.

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