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Weihnachtlich beleuchtet präsentiert sich der Ort Seiffen im Erzgebirge. Doch die Festtage werden von der Pandemie überschattet.

© Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

„Hallo aus dem Weltuntergangsgebiet“: So erklärt ein Bürgermeister die Lage im sächsischen Corona-Hotspot

Im Südosten Deutschlands wütet Corona derzeit am stärksten. Welche Ursachen nennen die Menschen vor Ort für die Situation? Ein Anruf in Wolkenstein.

"Deutsches Bergamo" - es sind harte Worte, die derzeit über den südöstlichen Zipfel Deutschlands fallen. Kein Wunder, ist doch Südostsachsen in den vergangenen Tagen zu dem Corona-Hotspot in Deutschland mit Inzidenzen in einzelnen Orten von teilweise mehr als 2000 Infizierten pro 100.000 Einwohner geworden. Eine Inzidenz von 50 gilt gemeinhin als Schwellenwert für eine mögliche Kontrolle der Pandemie.

Erklärungsversuche für die dramatischen Zahlen gibt es mehrere; viele AfD-Wähler nähmen das Virus nicht ernst, heißt es – und tatsächlich gibt es eine Korrelation zwischen den Wahlerfolgen der AfD in einzelnen Landkreisen und den Infiziertenzahlen. Allerdings gibt es auch Orte in Westdeutschland, die heftig von Corona getroffen sind, die AfD aber schwach ist.

Eine weitere gängige Erklärung lautet: Die Landesregierung um Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) habe das Virus zu lange unterschätzt. Das gibt Kretschmer mittlerweile auch zu. Sachsen gehörte im Dezember zu den ersten Bundesländern, die den Shutdown-Light durch einen härteren Lockdown ersetzten.

Das zeigt: Einfache Erklärungen für die Lage in Sachsen gibt es nicht. Wie erklären die lokal Verantwortlichen die Pandemie und die aktuelle Lage?

7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner: Lange war Sachsen nicht stärker betroffen von Corona als andere Bundesländer - Mitte November änderte sich das.
7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner: Lange war Sachsen nicht stärker betroffen von Corona als andere Bundesländer - Mitte November änderte sich das.

© Tagesspiegel

Anruf bei Wolfram Liebing, seit 2013 parteiloser Bürgermeister des kleinen Städtchens Wolkenstein mit rund 3800 Einwohnern, das rund 30 Kilometer südlich von Chemnitz liegt und eine bekannte Burganlage hat.

"Hallo aus dem Weltuntergangsgebiet" meldet sich Liebing zur Begrüßung, um gleich hinterherzuschieben: "Wolkenstein ist auch jetzt eine sehr lebenswerte Kleinstadt, ein herrliches Ambiente."

Und Liebing will gleich noch etwas anderes klarstellen: "Wir sind nicht undisziplinierter als andere." Er verweist auf Leipzig, das sehr viel niedrigere Zahlen als das Erzgebirge habe. "Dass die Menschen sich dort anders verhalten als hier, kann ich mir kaum vorstellen", sagt der 65-Jährige.

Vor der Apotheke, aus die er aus seinem Bürofenster blicke, würden die Menschen eher mit zwei Meter Abstand als mit 1,5 Meter Distanz stehen, erzählt er. Nicht anders sei es im Supermarkt.

Die Zahl der Infizierten? Unbekannt

Ihn wundert das auch nicht, denn die Bevölkerung im Landkreis sei im Schnitt eher alt. "Und alte Menschen sind eher vorsichtiger, eher ängstlicher als Jüngere." Auch auf den Straßen in Wolkenstein sehe man nur wenige Menschen, das sei auch schon vor Corona so gewesen. "Ab 19 Uhr kann man hier auch ohne Ausgangssperre auf der Straße spielen."

All das will heißen: Unachtsam oder gar unverantwortlich mit großen öffentlichen Treffen ist im Ort niemand. Doch wie kommen dann die dramatischen Zahlen zustande?

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Die erste Antwort darauf erstaunt. Denn Liebing sagt, er wisse gar nicht, wie viele Coronainfizierte es in seiner Stadt gebe. Der Landkreis würde die Zahlen nicht an die einzelnen Gemeinden weitergeben. Man wolle niemanden stigmatisieren, habe man ihm gesagt, erzählt Liebing. "Das bedeutet aber auch, dass ich über die akute Coronalage in meiner Stadt nichts weiß."

[Mehr zum Thema: Wie Sachsen zum bundesweiten Corona-Hotspot wurde]

Die eine Ursache für die hohen Inzidenzwerte in der Erzgebirgsregion kann Liebing nicht nennen. Er sieht sie vor allem in der ökonomischen und demographischen Situation begründet.

In der Region lebten überdurchschnittlich viele ältere Menschen, eine Folge der Abwanderung der Jüngeren in den Nachwendejahren. Das erkläre die hohen Fallzahlen bei den schweren Fällen.

Kam Corona verstärkt über Pendler nach Sachsen?

Hinzu komme, dass die Bevölkerung im Erzgebirge extrem mobil sei, was mit der vielfach schwierigen wirtschaftlichen Situation seit der Wende zu tun habe. Die Menschen pendelten nicht nur innerhalb Sachsens, um zu arbeiten, sondern auch bis nach Bayern und Baden-Württemberg.

Tatsächlich nahm die zweite Welle in Sachsen erst mit einigen Wochen Verzögerung Anfang Oktober Fahrt auf, in Süddeutschland begann sie schon Mitte August. Dass Pendler das Virus aus Süddeutschland vermehrt ins Erzgebirge brachten ist also nicht unwahrscheinlich.

Für den Erzgebirgsort Seiffen wurde Anfang Dezember ein Besuchsverbot verhängt und kontrolliert.
Für den Erzgebirgsort Seiffen wurde Anfang Dezember ein Besuchsverbot verhängt und kontrolliert.

© Jan Woitas/dpa-Zentralbild/dpa

Immerhin: Da der öffentliche Nahverkehr in der Region wegen der dünnen Besiedelung nur schwach ausgebaut sei, seien die Menschen allein in ihren Autos unterwegs. "Volle Busse oder Bahnen gibt es bei uns nicht. Aber am Arbeitsplatz treffen sich die Leute natürlich", sagt Liebing. Tatsächlich sind in Sachsen - und Thüringen - im Shutdown-Light im November die Mobilitätszahlen im Deutschlandvergleich am wenigsten zurückgegangen.

Das Erzgebirge ist aber auch Ziel von Pendlern aus Tschechien, die zum Arbeiten kommen, auch in den Kliniken. Im Nachbarland sind die Inzidenzen seit Wochen deutlich höher als im deutschen Schnitt. Andererseits ist man auf die Arbeitskräfte vor Ort vor allem in der aktuellen Situation dringendst angewiesen.

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Auf die aktuell in der sächsischen Landesregierung diskutierten Maßnahmen blickt Liebing kritisch. Die Regierung erwägt laut Medienberichten die Abriegelung von Hotspots. In die dürften dann Menschen nur noch im Notfall ein- und ausfahren und ihre Wohnung auch nur noch zum Einkaufen verlassen.

Bevölkerung würde noch härtere Maßnahmen kritisch sehen

Angesichts der Lage, erklärte Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) am Donnerstag in Dresden, "müssen wir überlegen: Was können, was müssen wir noch tun, um diese furchtbare Pandemie zu stoppen?. Gemeinden abriegeln' klingt extrem hart und wäre extrem hart."

Der Arbeitskrisenstab der Landesregierung habe am Mittwoch eine Analyse der Gemeinden erstellt, die die höchste Inzidenz aufwiesen. Diese Gemeinden würden jetzt weiter untersucht. Die Wirkung der aktuellen Maßnahmen würde zudem jetzt ersteinmal für "10 bis 14 Tage" geprüft.

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Liebing glaubt, dass noch härtere Maßnahmen zu einem extremen Unmut in der Bevölkerung führen würden. "Das sehen wir dann bei der nächsten Wahl an den Urnen. Und dann wundern sich wieder alle, warum so viele die Populisten wählen. Die Menschen sind auf Mobilität angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das nimmt man ihnen dann einfach."

Aktuell, sagt Liebing, solle man sich vor allem auf die alten Menschen konzentrieren und diese bestmöglich schützen. Ob das klappen kann? Aktuell gilt in sächsischen Pflegeheimen ein Besuchsverbot wenn man keinen negativen Schnelltest vorweisen kann.

Liebing ist trotzdem skeptisch. Dafür sei das Pflegesystem zu prekär aufgestellt, zu viele Menschen in den Heimen auf engem Raum, zu wenige Pfleger. "Die Massenhaltung ist weder in der Landwirtschaft gut, noch beim Menschen", sagt Liebing.

Das klingt, als würde der Weltuntergang in Südsachsen noch etwas weitergehen. In den drei Kliniken, die westlich im Einzugsbereich von Wolkenstein liegen, sind laut Intensivbettenregister die Kapazitäten im Bereich der invasiven Beatmung inzwischen ausgelastet.

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