
© Foto: dpa/Alexander Zemlianichenko
„Ich würde lieber das Land verlassen“: In Russland herrscht Unsicherheit, wen die Teilmobilisierung trifft
Die russischen Reservisten fürchten eine versteckte Generalmobilmachung. Dass lediglich „Kampferfahrene“ eingesetzt werden, ist nahezu ausgeschlossen.
Stand:
Am Mittwoch kündigte der russische Präsident Wladimir Putin in einer Rede an, durch eine Teilmobilmachung die „trainierte“ Reserve des Militärs an die Front in der Ukraine zu schicken. Diese bis zu 300.000 Reservisten sollen Soldaten sein, die ihren Wehrdienst bereits abgeschlossen haben.
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu versicherte, dass beispielsweise keine Studenten betroffen sein würden. Diese Aussage wird in Russland als Reaktion auf die Befürchtung gewertet, dass die Teilmobilmachung eine versteckte Generalmobilmachung ist.
Schoigu spezifizierte Putins Ankündigung zudem zwar und sagte, dass lediglich „kampferfahrene“ Reservisten eingesetzt würden. Allerdings haben, abgesehen von den Zehntausenden bereits in der Ukraine eingesetzten, keine weiteren Reservisten Kampferfahrung. Das berichtet der US-Thinktank „Institute for the Study of War“ (ISW).
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Mehrere Korrespondenten berichten nun, dass in der Bevölkerung Unsicherheit herrscht, wer genau eingezogen würde. Und tatsächlich lässt das Mobilisierungsdekret Raum für Fragen. Während des Protests gegen die Teilmobilmachung in Moskau sprach der „Deutschlandfunk“ mit einem jungen Russen.
„Ich kenne meinen Status nicht genau, bei mir ist es kompliziert. Ich falle wohl nicht unter die erste Mobilisierungswelle. Aber ich kenne Leute, bei denen könnte das der Fall sein“, sagte der junge Russe. „Das sind Leute, die vor nicht langer Zeit in der Armee gedient haben, bei der Fernmeldung oder bei den Raketentruppen“, sagte er.
Der britische „Guardian“ sprach mit einem russischen Reservisten, der seinen Wehrdienst vor 15 Jahren abgeleistet hatte. Deshalb dürfte er im Zuge der Teilmobilmachung nun eingezogen werden - obwohl er noch nie richtig gekämpft hat. „Ich würde lieber das Land verlassen, als in diesem Krieg zu kämpfen“, sagt er. Allerdings fürchtet er sich vor den Strafen für Kriegsdienstverweigerer. Denen drohen mehrere Jahre Haft. „Das ist unmöglich“, sagt er.
„Diese Entscheidung gefällt niemandem meiner Bekannten, und mir auch nicht. In meinem Bekanntenkreis gibt es eine leichte Panik. In den sozialen Medien gibt es viele Posts darüber, wie man den Einzug in die Armee verhindern kann und Widerstand leistet. Auf viele wirkt diese Entscheidung wie das Eingestehen eines Fehlers. Viele reden darüber, schnell das Land zu verlassen, und über die Situation an den Grenzen“, sagte der junge Russe im „Deutschlandfunk“.
Britische Geheimdienste sehen „beträchtliches politisches Risiko“
Der Militärexperte Dmitri Alperovitch erklärte, dass russische Reservisten, die die Teilmobilmachung umgehen wollen, sich zur Arbeit im Verteidigungssektor melden könnten. Weil dieser zur besonders kritischen Infrastruktur gehört, würden „fast sicher alle eine Ausnahme“ erhalten, schrieb Alperovitch auf Twitter.
Dass die Einberufungen in der Bevölkerung sehr unbeliebt sind, zeigten die Proteste in 38 russischen Städten am Mittwochabend, bei denen 1300 Demonstranten festgenommen worden sein sollen. Auch die britischen Geheimdienste sehen in der Hoffnung Putins, dringend benötigte Kampfkraft zu generieren, „ein beträchtliches politisches Risiko“, schrieb das Verteidigungsministerium in London am Donnerstag auf Twitter.
„Man muss bedenken: Die Leute, die ich um mich herum habe und über die ich teilweise sprechen kann, das ist die Mittelklasse der großen Städte. Das sind nicht die repräsentativsten Teile Russlands“, sagte der junge Russe im „Deutschlandfunk“.
Und weiter: „Ich würde gerne wissen, was die Leute aus meiner kleinen Heimatstadt denken. Wer von ihnen kann eingezogen werden? Ich versuche, mit ihnen zu sprechen, denke aber, dass es da viel Groll gibt, Hilflosigkeit und teilweise auch Akzeptanz.“
Das ISW bestätigt diese Berichte, wonach Russland größtenteils nur auf kampfunerfahrene Reservisten zurückgreifen kann. Nachdem sie ihren Wehrdienst, der teils Jahre zurückliegt, abgeschlossen hatten, sollen sie keine weiteren Trainingseinheiten erhalten haben.
Der verpflichtende Wehrdienst dauert lediglich ein Jahr. Dem ISW zufolge ist das zu wenig Zeit, um den angehenden Soldaten beizubringen, wie sie sich in verschiedenen Kriegsszenarien zu verhalten haben.
Russland setzt kampffähigste Reservisten schon ein
Dazu kommt: Die kampffähigsten Reservisten soll das Militär längst im Krieg einsetzen. Das ukrainische Militär teilte im Juni Informationen, dass bereits 80.000 russische Reservisten freiwillig in der Ukraine kämpfen.
Die Frage ist nun, wie viel Training die kampfunerfahrenen Reservisten erhalten, bevor sie eingesetzt werden. Es heißt, dass die mobilisierten Reservisten mehr als einen Monat trainiert werden, bevor sie in die Ukraine geschickt würden. Ein Offizieller des Militärkommissariats in der russischen Region Kursk wiederum verkündete, dass Reservisten unter 30 Jahren ohne zusätzliches Training direkt eingesetzt würden.
Auch der britische Geheimdienst zweifelt an Russlands Fähigkeiten zur angeordneten Teilmobilisierung. „Russland wird wahrscheinlich mit logistischen und administrativen Herausforderungen zu kämpfen haben, die 300.000 Soldaten auch nur zu mustern“, teilte das Verteidigungsministerium am Donnerstag via Twitter mit.
Die russische Militärführung werde vermutlich versuchen, mit den ausgehobenen Truppen neue Einheiten aufzustellen. Diese seien aber „wahrscheinlich monatelang nicht kampffähig“, hieß es weiter.
Bis dahin will sich Russland anders behelfen: In Artikel 4 des Mobilisierungsdekrets heißt es, dass alle Verträge für Zeitsoldaten nun bis zum Ende der Teilmobilmachung gelten. Bisher konnten die Soldaten nach einigen Monaten legal aus dem Dienst ausscheiden. Viele taten das, auch wenn sie öffentlich Ächtung befürchten mussten. Dass diese Soldaten länger an der Front bleiben, würde allerdings auch nur vorübergehend für ein wenig Entlastung sorgen. (mit dpa)
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