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Hochgestellte Stühle sind durch die Scheibe eines Cafés in der Kneipenmeile von Halle/Saale.

© dpa/Hendrik SchmidtHendrik Schmidt

Bilanz der neuen Corona-Maßnahmen: Ist der Lockdown zu light?

Mit strikten Einschränkungen des öffentlichen Lebens soll die zweite Coronawelle gebrochen werden. Wie fällt das Fazit nach fast zwei Wochen aus?

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Für eine Beurteilung der Effekte des derzeitigen Teil-Lockdowns ist es aus Sicht des Robert Koch-Instituts (RKI) noch zu früh. Man müsse abwarten, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler am Donnerstag in Berlin. Wie schnell das Infektionsgeschehen abgebremst werden könne, hänge vom Verhalten der Menschen ab.

Wieler rief erneut zum Einhalten der Maßnahmen auf: Regeln wie Abstandhalten, Tragen von Mund-Nasen-Schutz, Hygiene und Lüften würden die Menschen noch lange begleiten. „Wir müssen noch ein paar Monate die Pobacken zusammenkneifen“, sagte er. Es stimme ihn zwar vorsichtig optimistisch, dass die Zahlen zuletzt nicht mehr so stark gestiegen seien. „Wir wissen aber noch nicht, ob das eine stabile Entwicklung ist.“

Was weiß man über die Orte der Ansteckung?

Wo sich die Menschen infizieren, das ist in vielen Fällen leider nicht zurückzuverfolgen. Und selbst wenn die Betroffenen wissen, wo und bei wem sie sich angesteckt haben, wird diese Information in Deutschland nicht immer ans Robert Koch-Institut weitergereicht, so dass für mindestens 75 Prozent der gemeldeten Neuinfektionen der Ursprungsort unklar bleibt.

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Doch es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass die Pandemie vor allem von so genannten „Superspreading-Events“ getrieben wird. Das heißt, dass einige wenige Infizierte in Situationen oder Orte geraten, wo die Bedingungen so sind, dass sie viele andere anstecken: besonders dort, wo sich mehrere Menschen in geschlossenen Räumen über längere Zeit aufhalten.

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Zu diesem Schluss kommt eine Analyse eines Forschungsteams um Jure Leskovec von der Stanford University in Kalifornien, das demografische Daten, Informationen zur Covid-19-Epidemiologie und anonymisierte Handydaten in den USA analysiert hat.

Es konnte in Computermodellen das Kontaktverhalten von rund 98 Millionen Amerikanern in zehn amerikanischen Metropolregionen, etwa Chicago, Los Angeles und New York, untersuchen.

Das Modell simuliert die Aufenthalte von Menschen an rund 553.000 Orten wie Restaurants, Fitnessstudios, Kirchen oder Baumärkten so präzise, dass es die Fallzahlen in Chicago zwischen März und April allein anhand des Kontaktverhaltens korrekt abbildete.

Simulationen zeigen den Forschern zufolge, dass die Wiedereröffnung von Restaurants ohne Auflagen zur Abstandswahrung zum größten Anstieg von Neuinfektionen führt, gefolgt von Fitnessstudios, Cafés und Hotels. Eine Öffnung der Restaurants am 1. Mai hätte demnach binnen Wochen zu rund 600.000 Mehrinfektionen geführt, jegliche Veranstaltungen zuzulassen hätte zur Infektion von 3,3 Millionen Menschen geführt.

Sind die Ergebnisse auf andere Länder übertragbar?

Das ist nur bedingt möglich – aufgrund von Unterschieden im Kontaktverhalten, etwa in der Frequenz von Restaurantbesuchen. Die Modelle müssten mit hiesigen Daten gefüttert werden.

Doch vergleichbare Analysen und Modellierungen gibt es hierzulande schon, etwa das „Modus-Covid“-Projekt an der Technischen Universität Berlin, die „Modellgestützte Untersuchung von Schulschließungen und weiteren Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19“, in der Mobilitätsforscher Kai Nagel reale Bewegungsdaten von Menschen nutzt, um der Politik Entscheidungshilfen an die Hand zu geben, welche Lebensbereiche für den Kontakt von Menschen und damit das Infektionsgeschehen besonders relevant sein könnten.

Aktuelle Berliner Zahlen zeigen, dass sich das Virus vor allem in Privathaushalten verbreitet. Nach einer Aufstellung der Gesundheitsverwaltung auf Anfrage des CDU-Abgeordneten Christian Goiny ließen sich zwar im Oktober nur 28 Prozent aller Ausbrüche zuordnen. Davon entfielen auf Privathaushalte aber 54,7 Prozent, auf Alten- und Pflegeheime 8,6 Prozent, auf Krankenhäuser 6,3 Prozent und auf Schulen und Kitas 4,1 Prozent.

Sind die Inzidenzwerte von 35 und 50 weiterhin sinnvoll?

Sinn und Zweck der Grenzwerte für Eindämmungsmaßnahmen war und ist, eine Situation zu verhindern, in der so viele Menschen an Covid-19 erkranken, dass eine angemessene Behandlung nicht mehr gewährleistet werden kann, ob nun von den Praxen oder bei schweren Fällen in Krankenhäusern und dort besonders auf den Intensivstationen.

Das Problem ist, dass die Neuinfektionszahlen nur bedingt vorhersagen, wann mit wie vielen Intensivpatienten zu rechnen ist. Nach bisherigen Erfahrungen begannen sich drei Wochen nach Erreichen der 50er-Grenze die Einweisungen von Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern zu häufen.

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Die Idee, statt 50 sehr viel mehr Neuinfektionen pro Tag und 100.000 Einwohner im Wochenmittel zuzulassen, oder sogar erst dann mit Geschäftsschließungen oder anderen Maßnahmen zu reagieren, wenn die Intensivstationen bereits vollaufen, würde das Risiko erhöhen, in eine Überlastungssituation zu geraten.

Denn nach einer Neuinfektion braucht es einige Tage bis sich die Erkrankung manifestiert, und weitere Tage verstreichen, bis sie sich soweit verschlimmert, dass eine Krankenhauseinweisung und eine Verlegung auf die Intensivstation nötig wird. Die jetzt steigenden Patientenzahlen gehen also auf Infektionen vor Beginn des Lockdowns zurück.

Dass die 50er-Grenze gut gewählt ist, zeigt sich daran, dass etwa zum gleichen Zeitpunkt die Gesundheitsämter Alarm schlugen, dass sie mit den Nachverfolgungen der Kontakte von Neuinfizierten und dem Verhängen von Quarantänemaßnahmen nicht mehr hinterherkamen.

Kein Wunder: 50 Neuinfektionen pro Tag pro 100.000 Einwohner bedeutet, dass auf einem Gesundheitsamt wie in Steglitz-Zehlendorf vorsichtig geschätzt 250 neue Fälle auflaufen, von denen jeder etwa zehn bis hundert Erstkontakte hat – also 2500 bis 25.000 zu bearbeitende Fälle am Tag.

Das ist nicht zu schaffen und bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr alle Infizierten identifziert werden können – die Definition für eine Epidemie, die „außer Kontrolle“ ist.

Erst in den nächsten Tagen wird sich zeigen, ob der Lockdown noch rechtzeitig oder zu spät kam, ob also weitere Patienten auf den Stationen auflaufen oder der Trend nach oben zumindest gebrochen ist. Jetzt jedenfalls melden viele Stationen, dass sie „am Limit“ seien.

Wenn das so bleibt und man das als Maßstab nehmen will für das „maximale Ausreizen“ des Gesundheitssystems, dann scheint der 50er-Warnwert gerade noch ausreichend justiert zu sein. „Zu alarmistisch“ ist er jedenfalls offensichtlich nicht, wie mitunter behauptet wurde. Zumal die Politik auch einige Wochen brauchte, um den „Lockdown Light” zu beschließen und umzusetzen.

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