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Ein Wachturm im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau..

© dpa

Jahrestag der Auschwitz-Befreiung: Die Frau, die Dutzende Kinder vor dem Tod bewahrte

Sie schmuggelt sie aus Zügen, die nach Auschwitz fahren, sie sucht nach ihnen unter Leichen. Die Romni Alfreda Markowska rettet während des Krieges in Polen Dutzende Kinder vor dem Tod. Auch Karol Gierlinski ist darunter. Er sagt: „Ihr war klar, dass sie sterben könnte“.

Es ist dunkel im Wagen. Die Luft ist so dick, wie sie nur sein kann, wenn Dutzende von Menschen tagelang zusammengepfercht unterwegs sind. In einem Viehwagen. Lebende neben Toten. Es stinkt nach Fäkalien und Schweiß. Nach Angst. Plötzlich hält der Zug an, die Tür geht auf. Bahnarbeiter werfen die Leichen aus dem Wagen, verteilen Trinkwasser. Eine junge Sinti entscheidet schnell. Sie drückt einer der Arbeiterinnen draußen, einem Mädchen in einem langen Rock, ihren kleinen Sohn Parno in die Arme.

Vielleicht sagt sie noch etwas, das im Lärm an den Gleisen untergeht, vielleicht „leb wohl“, „Gott schütze dich“, oder einfach „danke“. Vielleicht fällt auch kein Wort. Das Mädchen schleicht mit dem Kind unter den Waggons durch, bis sie sicher sein kann, dass sie keiner der Aufseher entdeckt. Die Schiebetür des Wagens knallt zu. Der Zug fährt weiter. Nach Auschwitz.

„Es war ein Zufall“, sagt Karol Gierlinski. „Der richtige Zeitpunkt, der richtige Ort, die richtige Person.“ Der 76-Jährige sitzt in seiner Wohnung in Lipiny, einem kleinen Ort 110 Kilometer südlich von Warschau. Der schlanke Mann mit dem grauen Bart hält eine Zigarette in der Hand. Immer wenn er nachdenklich wird, nimmt er einen Zug. Gierlinski ist Bildhauer, Maler und Dichter. Und Zigeuner, so stellt er sich selbst vor. „Es gibt nicht nur Roma, sondern auch Lovari oder Kelderasch“, sagt er. „Zigeuner“ findet er deshalb als Oberbegriff ganz nützlich. Er selbst ist Sinti. Und Karol heißt er nur in der Welt der Nicht-Roma. Unter Sinti heißt er Parno.

„Es war ein Zufall, dass ich leben durfte“, wiederholt er. „Aber vor allem war es sie.“ Eine Pause, ein langer Zug an der Zigarette. „Die Frau, die mir ein zweites Leben geschenkt hat.“ Alfreda Markowska, unter den Roma einfach Noncia.

Es war wie ein Zwang

Sie rettete Parno, der damals vier Jahre alt war. Und nicht nur ihn. Dutzende Kinder bewahrte Noncia während der Kriegsjahre vor dem Tod. „Es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie sich anders hätte verhalten können", sagt Parno heute. „Sie musste die Kinder retten. Es war wie ein Zwang.“

Karol Gierlinski, genannt Parno.
Karol Gierlinski, genannt Parno.

© A. Hreczuk

Wie die Juden betraf der Holocaust auch Sinti und Roma. Denn auch sie wurden durch die Nürnberger Gesetze als minderwertig klassifiziert. Nach 1939 wurden tausende Roma in Ghettos im besetzten Polen gebracht und dann in den Konzentrations- und Vernichtungslagern getötet. Die Zahl der Opfer soll in ganz Europa zwischen 250 000 und zwei Millionen liegen. Eine Schätzung, genaue Berechnungen gibt es nicht. Denn die meisten besaßen keine Papiere, keinen festen Wohnsitz, keine Staatsbürgerschaft.

Sobibor, Majdanek, Belzec oder Treblinka hießen die letzte Aufenthaltsorte für Juden und Roma. Zum Symbol des Holocausts aber wurde Auschwitz. Ganze Familien wurden dort ab 1943 in einem eigenen „Zigeunerfamilienlager“ gefangen gehalten. Und doch wurde ein Großteil von ihnen nicht in Konzentrationslagern ermordet, sondern dort, wo sie gerade ihr Lager aufgeschlagen hatten. Von ihnen ist keine Spur geblieben.

Es war im Herbst 1941 oder Frühling 1942 – genau weiß es niemand mehr – als die 16-jährige Romni Noncia sich auf den Rückweg zu ihrem Lager in einem Wald in Ostpolen macht. „Du kannst nicht hingehen, sie sind alle tot!", schreit eine Frau, die ihr entgegenkommt.

Die Roma verstecken sich

Die Gruppe im Wald ist reich, vor dem Krieg lebten sie vom Großhandel mit Pferden. Jetzt verstecken sich die Roma. Als Untermenschen dürfen sie einfach erschossen werden und die deutsche Soldaten nutzen diese Gelegenheit, das wissen sie. Weit von den Ortschaften entfernt stellen sie ihre Pferdewagen ab, verziert mit Schmuckspiegeln und Drachenfiguren aus Holz, die das Böse abschrecken sollen. Tagsüber ziehen die Frauen durch die Gegend. Fürs Wahrsagen bekommen sie Fleisch oder Eier. Auch Noncia wandert von Dorf zu Dorf, legt Karten oder liest aus der Hand. Hübsch ist sie. Dunkelhaarig und dunkeläugig, mit einem bezaubernden Lächeln auf dem runden Gesicht.

„Geh nicht hin, sie werden dich auch erschießen“, schreit die Frau. Sie nimmt Noncia mit und versteckt sie in einer Scheune. Erst am nächsten Tag geht Noncia in den Wald zurück. Vom Lager ist nur Schutt und Asche geblieben. Ein Geruch, der in die Lungen eindringt und sie nicht atmen lässt. Eine ungewöhnliche Stille, die von keinem Vogelzwitschern durchbrochen wird. Nur die frische Erde auf den Gräbern bewegt sich, als ob sie seufzen würde – ein Bild, dass Noncia nie vergessen wird. Die Deutschen haben geschossen, bis sich niemand mehr rührte. Später haben sie einige Bauern gezwungen, die Opfer zu begraben. Onkel, Tanten, Cousinen, Nichten, Neffen hat Noncia an jenem Tag verloren. 80 Menschen.

„Ohne seine Gruppe ist ein Zigeuner tot“, sagt Parno. Jame, „wir“, so nennen sie es selbst, als Gegensatz zu den anderen, der Außenwelt. Der Ausstoß aus der Gruppe ist die höchste Strafe. Als Noncia im Wald steht, fühlt sie sich genau so. Allein und ausgestoßen.

Mitten im Wald findet sie ein Kind

Es ist ein Glück, dass ihr Ehemann, Gucio, überlebt hat. Kurz bevor die deutschen Soldaten das Lager entdeckt hatten, war er zu seiner Familie gefahren. Noncia fährt zu ihm ins südpolnische Stalowa Wola. Bald arbeitet sie dort mit einer Gruppe von Sinti und Roma in der Organisation Todt, einer Arbeitstruppe unter der obersten Führung des Nationalsozialisten Fritz Todt, die in den besetzten Gebieten Bahnschienen verlegt, Gleise wartet und kleinere Reparaturarbeiten erledigt. Durch Bestechung haben sie es geschafft, offiziell als Bahnarbeiter registriert zu werden. Sie bekommen Kennkarten und Ausweise, die ihnen auch erlauben zu reisen.

Als jemand Noncia von einer Gruppe Roma erzählt, die in der Nähe in einem Wald umgebracht wurde, kommen alle ihre schrecklichen Erinnerungen wieder. „Als sie das gehört hat, ist sie sofort dorthin gefahren“, erzählt Parno. „Einfach so, ohne zu überlegen.“ In den Überresten des Lagers im Wald findet Noncia ein Kind. Es ist ihr erstes.

„Wir haben nie endgültig festgestellt, wer von uns es war“, sagt Parno. „Das weiß selbst Noncia nicht mehr. Es kamen später so viele dazu. Sie hat den Überblick verloren. Jedes einzelne war einfach ihr Kind.“

An diesem Tag entscheidet Noncia, ihre Großfamilie wieder aufzubauen. Im Kreis von 100 Kilometern fährt sie überall dort hin, wo die Nazis gemordet hatten oder polnische Dörfer verbrannt wurden. Unter den vielen Leichen sucht sie nach lebenden Kindern. Aus den Zügen nach Auschwitz oder Belzec, die in Stalowa Wola anhalten, schmuggelt sie die Kinder raus. Nie wird sie entdeckt.

Über den Holocaust zu sprechen ist unter Roma fast ein Tabu

Vielleicht hat sie einen Schutzengel. Vielleicht aber denkt auch einfach kein Wächter daran, dass eine, für die als Roma ohnehin nur der Tod vorauszusehen ist, sich die Mühe machen könnte, andere zu retten. Kleine Roma, Juden, Polen. „Die Nationalität war Noncia egal“, sagt Parno. Ein paar Jahre später, als Noncia und ihr Ehemann hinter die Front nach Westen ziehen, bis nach Gorzow, habe sie auch dort die verlorenen Kinder aufgenommen. Deutsche Kinder.

„Sie hat erzählt, ihr sei klar gewesen, dass sie sterben könnte. Aber sie dachte einfach nur daran zu überleben“, sagt Parno. „Und dass die Kinder überleben.“ Manchmal hat sie gleichzeitig über zehn Kinder in Obhut. Einige versteckt sie bei befreundeten Familien, Roma oder Polen in der Gegend. Andere leben in den Bahnarbeiterbaracken, fast vor den Augen der Deutschen. Jene, die keine Familie mehr haben, bleiben bei Noncia und wachsen zusammen mit ihren fünf leiblichen Kindern auf. Manche aber bleiben nur ein paar Tage oder Wochen. Ihre Familienangehörigen melden sich bei Noncia, benachrichtigt von den Nachbarn, Bekannten oder Noncia selbst. Unter ihnen ist auch der kleine Parno.

Er trug einen Zettel mit der Adresse seiner Oma bei sich, die im Warthegau bei Posen lebt. Ein Cousin seines Vaters kommt schließlich und holt Parno ab. In der großpolnischen Provinz wächst er bei seiner Großmutter und seinem Urgroßvater auf. Der trägt einen deutschen Nachnamen und solange er lebt, bleibt die Familie unbehelligt. Doch als er stirbt, werden Parno und seine Oma als Zwangsarbeiter nach Hamburg deportiert. Erst nach dem Krieg kehren sie zurück nach Polen.

"Wir reden nicht über schlechte Sachen"

„Ich habe mich nach dem Krieg nur noch an ihr Lächeln erinnert. Ein warmes Lächeln, mit dem sie trotzdem alles ausdrücken konnte“, sagt Parno. „Als ich Noncia wiedersah, lächelte sie genauso, wie ich es in Erinnerung hatte." Nach Kriegsende sucht Parnos Großmutter nach Noncia und findet sie bei Danzig. Vier Jahre nach dem Krieg verbringt Parno seine Ferien bei ihr. Er betrachtet Noncia als Ersatzmutter, sie ihn als Sohn. Mit ihrer großen Familie zieht er mit Pferdewagen durch Polen. Erst als die Regierung 1964 das Nomadentum verbietet, werden Noncia und ihr Mann sesshaft und ziehen in ein eigenes Haus bei Posen. Sie verzinnen Kessel bei einer Molkerei und Noncia handelt mit Teppichen.

Nur einmal ist Parno nach dem Krieg nach Auschwitz gefahren, den Ort, an dem seine Mutter und so viele seiner Verwandten starben. Doch: „Ich konnte nicht rein, es ging nicht.“ Seine Stimme zittert, er braucht mehrere Zigarettenzüge, bevor er wieder reden kann.

Über den Holocaust zu sprechen ist unter Roma fast ein Tabu. „Wir reden nicht über schlechte Sachen. Über Schmerz, Krankheit, Tod, aus Angst, dass man sie dadurch wieder ruft“, sagt Parno. Es ist Vergangenheit. Was es nicht heute und nicht hier gibt, das zählt nicht. In Romani, der Sprache der Roma, gibt es keinen Unterschied zwischen morgen und gestern, beide heißen gleich, tajsa. Weil es im Prinzip unwichtig ist, was passieren wird oder passiert ist. Ändern kann man beides nicht.

Also redet auch Noncia kaum über diese schlechte Zeit. Schon gar nicht über das eigene Heldentum. Nur manchmal erzählt sie ihren Enkelkindern, wie es früher war, als die Familien mit ihren Wagen durch das Land zogen. „Wir haben damals gerne zugehört, aber haben es als Märchen betrachtet“, sagt Patryk Dolinski. Patryk – für Nicht-Roma Robert – ist Noncias Enkelkind.

Für ihn, sagt der 36-Jährige, sei die Baba Noncia, Oma Noncia, schon immer jemand Besonderes gewesen. In Gorzow, wo sie seit dem Tod ihres Ehemannes lebt, ist Noncia eine Autorität geworden, die Seniorin der Familie, Phure Daj, eine alte, geschätzte Mutter. Ihre Meinung ist hier wichtiger als die der Männer. Doch von ihrer Geschichte erfuhren auch die Enkelkinder erst spät.

Heute ist sie fast 90 Jahre alt

„Wir sind wie Brüder“, sagte Parno einmal, als er mit anderen in Gorzow zusammensaß. Patryk war beinahe 30, Parno kennt er seit seiner Kindheit. Er weiß, dass der „Onkel“, anders als die meisten Zigeuner in Gorzow, nicht Roma, sondern Sinti ist. Bisher fragte Patryk nie, warum. „Ich machte damals einen Scherz“, sagt er. „Wenn das Bier alle ist, wird die Bruderschaft vergessen.“ Da fing Parno an zu erzählen. Die vier, die bei ihm saßen, wurden auch von Noncia gerettet.

Die Leute müssen wissen, was Noncia gemacht hat, entschied Parno daraufhin. Er schrieb Briefe an Ämter und an die Präsidentenkanzlei. Sie sammelten Zeugnisse der anderen Kinder, die von Noncia gerettet wurden. Sie kommen auf 50. Einige können sie nicht mehr finden. Viele Juden sind nach einer antisemitischen Kampagne 1968 ausgewandert, der Kontakt brach ab.

„Wenn es heute noch das jüdische Volk gibt, wenn es noch ein Roma-Volk gibt, dann nur dank Menschen wie Ihnen“, sagte der ehemalige polnische Präsident Lech Kaczynski am 17. Oktober 2006 im Präsidentenpalast, als er Noncia eine der höchsten Auszeichnungen Polens verlieh.

Karol „Parno“ Gierlinski (rechts) und Alfreda „Noncia“ Markowska.
Karol „Parno“ Gierlinski (rechts) und Alfreda „Noncia“ Markowska.

© privat

„Wir waren stolz, wir wussten, was es bedeutete, auch für alle Roma in Polen“, sagt Parno. Nie zuvor war eine solch wichtige staatliche Auszeichnung an eine Romni verliehen worden. Für Noncia aber war der Orden bedeutungslos. Er liegt heute in ihrem Schrank. In der Schule in Gorzow aber, die auch Roma-Kinder besuchen, erzählen die Lehrer nun im Geschichtsunterricht von ihr, wenn es um den Holocaust geht.

Noncia ist heute fast 90 Jahre alt und zu krank, um fremden Besuch zu empfangen. Ihre kleine Rente reicht nur knapp fürs Leben und für Arzneimittel. Eine Entschädigung für die Verfolgung hat sie nie bekommen. Unglücklich scheint sie trotzdem nicht zu sein. Die Familie, die sie wollte, hat sie aufgebaut: Kinder, Enkelkinder, Urenkel, verstreut in ganz Polen. „Alle zusammen sind wir schon fast 500“, sagt Parno. Das Wort, das sich Noncia während des Krieges gegeben hat, hat sie gehalten.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Agnieszka Hreczuk

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